«Zuvorderst, ganz allein»

Im letzten Jahr hat sich der 22-jährige Berner an die Weltspitze des Radsports katapultiert. Sein Geheimnis? «Ich machte viele Fehler, aber nie zweimal.»

Veröffentlicht in Die Weltwoche, 22. Dezember 2020

Bild: Roman Zeller.

Bild: Roman Zeller.

Wenn Marc Hirschi klettert, wenn er sich mit halboffenem Veloleibchen die Bergstrassen hochkämpft, sticht es ins Auge: das Kreuz um seinen Hals. Mit seinem Glücksbringer, sagt der 22-jährige Berner, triumphierte er bereits bei der Junioren-Welt- und Europameisterschaft; in diesem Jahr gewann er damit seine erste Tour-de-France-Etappen, den Klassiker Flèche Wallonne sowie WM-Bronze. Hirschi erklärt seinen Erfolg weder mit Gott noch mit Schicksal – aber es habe schon alles seinen Grund im Leben, sagt er im Gespräch.

Weltwoche: Herr Hirschi, Sie hatten ein super Jahr, Gratulation! Was war Ihr Highlight 2020?

Marc Hirschi: Der Etappensieg an der Tour de France, mein erster Profi-Sieg überhaupt. Also schon auch der Sieg an der Flèche Wallonne. WM-Dritter zu werden, war auch cool, aber ein Sieg ist für mich immer mehr wert.

Weltwoche: Was war matchentscheidend, um es soweit, bis an die Weltspitze zu bringen?

Hirschi: Dass ich schnell aus Fehlern lernte, und dass ich sie nicht wiederholte. Ich machte viele Fehler, aber nie zweimal. Wenn die Ernährung oder das Gefühl im Training nicht stimmten, passte ich mich sofort an.

Weltwoche: Wie bemerkten Sie Ihre Fehler?

Hirschi: Um mich herum waren immer die richtigen Leute, die sehr kritisch waren. Meine Eltern sagten immer, wenn ich etwas mache, dann richtig – überall. Als ich bis dreizehn Fussball spielte, ging ich in jedes Training. In den Veloklub, wo die meisten mit dem Auto hingefahren wurden, ging ich mit dem Velo mit meinem Vater. Er sagte immer: «Man geht sicher nicht mit dem Auto ins Velotraining.»

Weltwoche: Erinnern Sie sich an Ihre allererste Velotour?

Hirschi: Nein, nur an meine erste Rennvelotour. Das war irgendwann im Sommer, am Abend, auf einem Specialized-Velo. Ich war etwa dreizehn. Wir fuhren weit, vielleicht fünfzig, sechzig Kilometer. Ich hatte extrem Spass, weil ich so viel schneller war als mein Vater mit seinem Mountainbike. Mit dem Lenkrad, dem gebogenen Lenker, fühlte ich mich wie ein Profi.

Weltwoche: Hatten Sie damals Vorbilder?

Hirschi: Fabian Cancellara – er wohnte ja auch in Ittigen. Mich faszinierte seine Ästhetik, wie er auf dem Velo sass. Er hatte klare Ziele. Er fuhr praktisch Siege auf Ansage.

Weltwoche: Hätten Sie sich jemals erträumt, in seine Fussstapfen zu treten? Oder war das komplett illusorisch?

Hirschi: Das war absolut unvorstellbar. Ich fokussierte mich einfach aufs Velofahren. Immer mittwochs trainierte ich im Veloklub. Die meiste Zeit war ich aber mit meinem Vater unterwegs, wann immer er und ich Zeit hatten. Ich fuhr regionale Moutainbike-Rennen, vielleicht sechs im Jahr, dazu wenige kantonale und nationale. Ich dachte, ich fahre ein bisschen Velo, mehr nicht.

Weltwoche: Wann merkten Sie, dass Sie den Durchbruch schaffen könnten?

Hirschi: Ich wurde stetig besser. Als ich anfing – mit dreizehn, vierzehn Jahren –, war ich schon recht gut. In der U 17, als ich meine erste internationale Rundfahrt gewann, fiel mir auf, dass ich Talent habe. Dann, in der U 19, war ich international richtig gut. Da dachte ich, das könnte klappen.

Weltwoche: Heute sind Sie Veloprofi. Erzählen Sie von Ihrem Alltag.

Hirschi: Ich stehe so um neun Uhr auf, esse etwas und lege mich nochmals hin. Um elf Uhr sitze ich aufs Velo, für fünf, sechs Stunden. Dann, wenn ich zurückkomme, esse und dusche ich. Am Abend erledige ich irgendwelche Verpflichtungen, bearbeite meine Social-Media-Kanäle und esse Znacht. Dann, so um neun Uhr, gehe ich schlafen, weil das Training recht intensiv ist.

Weltwoche: Wie viele Kilometer spulen Sie pro Tag ab?

Hirschi: Normalerweise 30 pro Stunde, also 150 im Tag. Durchschnittlich.

Weltwoche: Was reizt Sie daran, täglich solche Distanzen zurückzulegen?

Hirschi: Es ist sicher mein Ehrgeiz, besser zu werden. Es macht mir ja nicht jeden Tag eine Riesenfreude, es ist ja immer noch Training. Ich liebe den Wettkampf, die Lebensart, viel rumzukommen, auf der World Tour dabei zu sein. Und ich kann ausschlafen, meinen Tag, die trainingsfreien Stunden selber einteilen. Im Winter sind wir jeweils in Spanien, wo es warm und schön ist. Wenn ich sehe, dass andere Leute acht Stunden im Büro hocken, kann ich mich nicht beklagen.

Weltwoche: Wie ist dieses Gefühl, auf dem Velo durch die Ebenen zu gleiten, so schwerelos, wie Sie das machen?

Hirschi: Gut, meistens fährt es nicht von alleine, etwas läuft immer nicht ganz rund. Mich motiviert, dass ich nicht umsonst auf dem Velo sitze, sondern immer ein Ziel habe.

Weltwoche: Das klingt jetzt unromantisch.

Hirschi: Klar gibt es Touren, die richtig passen. Heute zum Beispiel, beim Sonnenuntergang, oder wenn ich von der kalten in die frische Luft fahre. Das kann extrem befriedigend sein. Aber vielfach ist es hartes Training, das ist halt so.

Weltwoche: Haben Sie eine Lieblingsroute?

Hirschi: Am meisten fahre ich um den Thunersee.

Weltwoche: Einen Lieblingspass?

Hirschi: Wenn ich wählen müsste, dann den Gotthard, von Tremola hinten rauf, wegen des Kopfsteinpflasters.

Weltwoche: Sie mischen als erst 22-Jähriger die Weltspitze auf: Wie ist es, mit den Stars mitzufahren?

Hirschi: Das erste Mal war es extrem speziell, aber man wächst da hinein. Auf einmal fährt man nur noch gegen Profis, bis es einem irgendwann gar nicht mehr auffällt.

Weltwoche: Wie ist es, diese Stars stehenzulassen?

Hirschi: Extrem motivierend! Ich meine, für mich war nur schon das Mitfahren Motivation pur, einem Alejandro Valverde oder Julian Alaphilippe nachzufahren, gab mir Extraenergie. Dabei sein war alles.

Weltwoche: In der 9. Etappe der Tour de France gelang Ihnen eine Flucht über neunzig Kilometer. Alleine. Was passiert da im Kopf, wenn man vorne davonzieht?

Hirschi: Am Anfang, beim Wegsprinten, kommt man in eine Rieseneuphorie. Aber die kann man nicht halten, sicher nicht vier Stunden lang. Man realisiert plötzlich, wo man ist: nämlich zuvorderst, ganz allein, und hinten kommen sie einem immer näher. Und dann spürt man den Schmerz, man versucht, die Kraft einzuteilen. Man macht sich aber auch Gedanken, ob es sinnvoll war, was man gerade gemacht hat.

Weltwoche: Ein unglaublicher mentaler Stress.

Hirschi: Ja, genau. Man hört das Team über den Knopf im Ohr, was hinten abgeht, wie sich der Vorsprung verkleinert. Man versucht, keine Fehler zu machen, viel zu essen und zu trinken, eine schöne Aeroposition zu fahren – sich halt darauf zu fokussieren, was man beeinflussen kann. Aber ja, es ist recht stressig. Gerade am Schluss, wenn man nicht weiss, ob es reicht oder nicht. Ich war im Kopf völlig durch.

Weltwoche: Kann man sagen, man strampelt nur noch, ohne gross zu überlegen?

Hirschi: Am Schluss sicher. Das beginnt aber schon früher: Man fragt sich permanent, wie es wohl nach zehn, zwanzig Kilometern aussehen könnte: Kann ich das durchziehen? Was, wenn ich einbreche? Man ist hin- und hergerissen, man fällt ständig von einer Euphoriewelle in eine negative Phase.

Weltwoche: Es heisst, Sie seien technisch herausragend. Was ist das, ein technisch guter Velofahrer?

Hirschi: Es gibt zwei Arten von Technikern: die, die Trickli können – aber darin bin ich schlecht. Und dann gibt es die Technik auf dem Rennvelo, das Auge, wo im Feld der Fluss ist, wo man fahren und sich positionieren muss. Die Linienwahl. Oder die Abfahrt, der Anstieg am Berg, da bin ich relativ stark.

Weltwoche: Gibt es den perfekten Velofahrer?

Hirschi: Nein. Und das ist genau das Spannende, es gibt alles: Es gibt grosse Zwei-Meter-Fahrer, die extrem schlank sind – Chris Froome oder Geraint Thomas. Und manchmal, wenn gerade wieder die Kolumbianer vorne sind, hat man das Gefühl, es sind eher kleine, dünne Bergfahrer im Vorteil. Es gibt aber auch Sprinter, die wiegen neunzig Kilo.

Weltwoche: Haben Sie eine Schwäche?

Hirschi: Physisch sicher den Sprint, aber am Berg ist das eine Stärke. Etwas, was ich erreichen will, ist, auf dreiwöchigen Rundfahrten stärker zu werden. Ich will eine höhere Grundausdauer und eine bessere Erholungsresistenz aufbauen.

Weltwoche: Was ist mit Ihrem Potenzial in Zukunft möglich?

Hirschi: Ein Fragezeichen ist, ob ich bei der Tour de France drei Wochen vorne mitfahren kann. Momentan ist es sicher zu früh dafür. Ich würde einbrechen, wenn ich auf das Gesamtklassement fahre. Daher fokussiere ich mich auf Eintagesrennen und Etappen, was mich aber automatisch für die Grand Tours wie den Giro d’Italia, die Tour de France, die Vuelta a España besser macht. Dass ich solche Rennen gewinne, ist möglich, aber ich will nicht reinschiessen und übertreiben.

Weltwoche: Anderes Thema – Doping. Bei der Tour de France fielen Geschwindigkeitsrekorde, Tour-Sieger Tadej Pogacar pulverisierte sogar die Bestzeit beim Aufstieg zum Col de Peyresourde. Wie ist das zu erklären?

Hirschi: Gut, das Material, die Aerodynamik wurden viel besser. In der Ernährungswissenschaft ging viel, die Erholung wurde professionalisiert, das Training auch – das ist ein ganz anderes Level als früher. Gerade junge Fahrer, das merke ich selber, werden früh und von erfahrener Seite betreut, um Fehler zu vermeiden. Das ist ein Riesenunterschied.

Weltwoche: Wie clean ist heute der Radsport?

Hirschi: Ich habe das Gefühl, dass in den letzten Jahren extrem viel ging im Kampf gegen unerlaubte Substanzen. Mein Empfinden ist, dass Doping wirklich der Vergangenheit angehört. Ich selber konnte erfahren, dass man grosse Rennen sauber gewinnen kann. Aber wissen Sie, es ist schwierig, über dieses Doping-Thema zu reden. Ich meine, was soll ich dazu gross sagen?

Weltwoche: Okay, Themawechsel. Wenn Sie den Berg runterbrettern, was passiert, wenn Ihnen in einer Kurve das Hinterrad ausbricht und Sie stürzen?

Hirschi: Man kann gar nicht reagieren, denn das geht so schnell. Bis man irgendetwas realisiert, ist man schon auf dem Boden. Im Rennen spürt man weniger als im Training. Im Training schaue ich mir das Velo an, ob es ganz ist, ich hocke hin, atme durch, und dann tut mir alles weh. Im Rennen, an der Tour de France, spürte ich gar nichts. Ich war voller Adrenalin. Klar, nach ein paar Minuten tat es dann schon ein bisschen weh, aber ich war halt so im Zeug und fuhr einfach weiter.

Weltwoche: Wie sieht Ihre Mutter Ihre halsbrecherischen Abfahrten?

Hirschi: Sie hat sicher nicht so Freude. (Lacht) Aber bis jetzt ist mir nichts Grosses passiert, nur ein paar Schürfungen.

Weltwoche: Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft?

Hirschi: Sportlich steht mit Olympia im nächsten Jahr etwas Grosses an. Und privat möchte ich ausziehen, möglichst zeitnah, wenn’s geht noch vor der Saison. Eines Tages könnte ich mir eine Familie vorstellen. Aber über Kinder mache ich mir noch keine Gedanken – ich bin ja erst 22.

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