«Was das Herz sagt, ist das Wichtigste»

Latin-Sänger Loco Escrito, 31, ist der Schweizer Musiker der Stunde. Seine Kunst ist es, pure Freude zu vermitteln.

Veröffentlicht in Die Weltwoche, 28. Juli 2021

Bild: Roman Zeller.

Bild: Roman Zeller.

Loco Escrito ist die Frohnatur im Schweizer Musikzirkus. Wo immer Nicolas Herzig, wie er richtig heisst, mit seinem Latin-Sound auftritt, kommt gute Laune auf. Mit seinen Sommerhits, die der Schweiz-Kolumbianer am Laufmeter produziert, lässt der 31-Jährige nicht nur Teenager-Herzen höherschlagen. Dreimal in Folge gewann er die Königskategorie «Best Hit» bei den Swiss Music Awards. Dass er sich auch in Deutschland durchsetzen wird, wie sein Vorhaben lautet, wäre zwar keine Überraschung, aber bloss ein Etappenziel. Denn Loco Escrito träumt gross, vom Latin Grammy und von den Billboard Music Awards – Auszeichnungen, die bisher keinem Schweizer Künstler zuteilwurden.

Für unser Gespräch setzt sich Herzig auf die Terrasse seines Büros in Zürich. Weil die Sonne brennt, entledigt er sich seines T-Shirts. Er setzt eine verspiegelte Sonnenbrille auf und sagt, dass er bereit sei. «Fragen Sie, was Sie wollen.»

Weltwoche: Herr Herzig, als Künstler nennen Sie sich «Loco Escrito». Wer sind Sie?

Nicolas Herzig: Jemand, der das Leben liebt und auf sein Herz hört, als einziges Gesetz.

Weltwoche: Ihr Vater ist Kolumbianer, Ihre Mutter Schweizerin. Geboren sind Sie in Medellín, aufgewachsen in Wetzikon. Was war in Ihrer Kindheit wichtig?

Herzig: Die Familie. Mein Vater verbrachte viel Zeit mit mir und meinen Geschwistern. Das inspiriert mich für den Umgang mit meiner Tochter. Ich wuchs einfach auf, mit viel Liebe.

Weltwoche: Was war für Ihre Eltern bei der Erziehung massgebend?

Herzig: Anstand und Respekt. Sie lehrten mich auch, nicht mit dem Finger auf Leute zu zeigen, sondern mit ihnen zu reden, Verständnis zu haben, ohne alles zu tolerieren.

Weltwoche: Was geht Ihnen zu weit?

Herzig: Alles, was mit Diskriminierung und Ausgrenzung zu tun hat. Wer aus Unzufriedenheit böswillig mit dem Finger auf andere zeigt, den toleriere ich nicht.

Weltwoche: Sie erlitten Schicksalsschläge wie den Tod Ihres besten Freundes oder die Scheidung Ihrer Eltern. Wie konnten Sie die Negativereignisse ins Positive drehen?

Herzig: Alles, was echt ist, sehe ich positiv. Wichtig ist, transparent und aufrichtig mit sich selbst zu sein. Man sollte die Eier haben, wirklich grosse Eier, hinzuhören, was man will und wie man sich fühlt. Und das dann umsetzen. Und Schlechtes annehmen, denn unter dem Strich geht das Leben immer weiter.

Weltwoche: Als Teenager kifften Sie und widersetzten sich Lehrern und Polizisten, wenn Sie sich nicht respektiert fühlten. Wie würden Sie sich als Jugendlicher beschreiben?

Herzig: Schon rebellisch, aber nur, wenn ich das Gefühl hatte, jemand am längeren Hebel behandle mich schlecht. Ich sagte jedem meine Meinung. Ich war laut, aber aufnahmefähig. Eigentlich alles, was in der Schule nicht gefragt war. Das führte damals zu Problemen, heute bin ich deswegen erfolgreich: weil ich extrovertiert bin, ein Leader.

Weltwoche: Was wäre aus Ihnen geworden, wenn nicht Musiker?

Herzig: Keine Ahnung, es gab nie eine andere Option, ich ging immer voll meinem Traum nach. Das grösste Geschenk, das einem Gott geben kann, ist, dass man weiss, was man im Leben will. Dieses Hinhören, was das Herz sagt, ist das Wichtigste. Und wenn das Herz Chinesisch spricht, muss man halt Chinesisch lernen.

Weltwoche: Wann sagte Ihr Inneres erstmals, dass es Sänger werden will?

Herzig: Ich bewunderte schon immer Leute, die auf der Bühne stehen – zum Beispiel Zirkusartisten oder Sänger. Davon träumte ich, traute es mir aber damals noch nicht zu.

Weltwoche: Können Sie sich an Ihren ersten Auftritt erinnern?

Herzig: Das war in Rüti, an einem Geburi, in einem Jazz-Keller. Zwei Leute schauten mir zu. Ich weiss noch, wie nach zwei Minuten meine Stimme versagte. Trotzdem spürte ich: Was ich mache, tut mir gut. Und so ist es heute noch. Viele sagen mir, dass ich irgendwann ein Burnout erleiden würde, wenn ich ununterbrochen weiterarbeite. Ich antworte, dass ich nicht kaputtgehen kann, weil ich liebe, was ich mache.

Weltwoche: Mit vierzehn Jahren traten Sie der Rap-Gruppe LDDC bei: Weshalb starteten Sie anschliessend eine Solokarriere als Sänger?

Herzig: In mir schlummerten immer schon Melodien. Das ist mein Talent. Ich brauchte ziemlich lange, um zu checken, wie gut ich singen kann. Ich musste es erleben, es spüren, dass mich der Gesang erfüllt.

Weltwoche: Wie kam die Latin-Musik in Ihr Leben?

Herzig: Latin war immer in mir. Das Problem war, einen Produzenten zu finden, der diesen Sound versteht. Latin geht nicht theoretisch, man muss es fühlen. Mit meinem Produzenten begann ich dann 2016 zu arbeiten.

Weltwoche: Können Sie erklären, was Ihre Musik ist: «Latin-Pop» oder «Latin Urban»?

Herzig: Reggaeton, ganz einfach. Es ist etwas, bei dem man pure Freude fühlt und diese ohne Angst rauslässt.

Weltwoche: Was ist guter Latin-Sound?

Herzig: Musik muss authentisch sein, das gilt für jedes Genre. Man muss sich im Leben gefunden haben. Und man muss hungrig nach Erfolg sein, auch wenn das Geld nicht im Fokus stehen darf. Das kommt von alleine. Am Ende geht es um Leidenschaft, um Biss, um das Verlassen der Komfortzone, immer und immer wieder.

Weltwoche: Wie definieren Sie Erfolg?

Herzig: Erfolgreich ist, glücklich zu sein. Was das aber ist, muss jeder selbst wissen. Erfolg ist ein umgesetztes Ziel.

Weltwoche: Wie schreibt man einen Hit?

Herzig: Man muss viele, viele Songs schreiben, dann weiss man, wie es geht. Wissen Sie, wie viele Songs ich in meinem Leben schon geschrieben habe? Es sind sicher über tausend.

Weltwoche: Wie wissen Sie, was ankommt?

Herzig: Das spür’ ich sofort. Es braucht Leben, Gefühl. Klar, es gibt Tricks: Das Lied sollte etwa drei Minuten lang sein, nach dreissig Sekunden muss der Refrain kommen. Manchmal glauben Musiker, sie könnten das Rad neu erfinden. Ich sag immer: Wenn in der Autoindustrie Ecken und Kanten dominieren, kannst du kein rundes Design bringen – egal, wie schön es ist.

Weltwoche: Sie schreiben nicht nur Hits, sondern auch Sommerhits. Braucht es dafür ein spezielles Sensorium?

Herzig: Solche Songs müssen fröhlich sein. Und ein fröhlicher Song ist viel schwieriger zu schreiben als ein trauriger Song. In diese Klänge musst du deinen Stil reinbringen. Ich habe nie versucht, jemanden zu kopieren. Vielleicht hilft mir, dass ich privat fast keine Musik höre.

Weltwoche: Gibt es einen Künstler, der Sie trotzdem beeinflusst hat?

Herzig: Ja, Carlos Vives, ein kolumbianischer Sänger. Er bringt am meisten Gefühl rüber, das ist das A und O – nicht Perfektion.

Weltwoche: Wer ist der Carlos Vives der Schweiz?

Herzig: Ich habe mich zu wenig mit Schweizer Musik auseinandergesetzt, sorry. Es gibt schon diesen Berner Künstler – der Langhaarige, der französische Lieder singt, ich weiss nicht mal seinen Namen. Oder Patent Ochsner war auch revolutionär, aber halt nie mit so viel Tiefe wie Vives. Das darf man den Schweizern nicht übelnehmen. Die Lebensfreude kann gar nicht dieselbe sein, wenn man im Alien-Paradies aufwächst und alles hat. Ich sehe die Schweiz als etwas Ausserirdisches. ›››

Weltwoche: Wen finden Sie überbewertet?

Herzig: Eigentlich niemanden. Aber was ich krass finde, ist, dass die alten Hasen immer noch so gefeiert werden. Bei den Swiss Music Awards lobte man Büne Huber in den Himmel, ohne einen Satz über die Rapper Loredana, Monet 192 oder mich zu verlieren.

Weltwoche: Sie sind ein supererfolgreicher Latin-Musiker. Sie sind Schweizer und sind sogar international auf dem Vormarsch. Trotzdem mäkeln Feuilleton- und Kulturjournalisten an Ihnen herum, wenn sie überhaupt über Sie schreiben. Woran liegt das?

Herzig: Ich denke, den zu selbstsicheren Loco mag man nicht. Aber das ist menschlich: Man pusht jemanden, bis er oben ist, und dann beginnt man, ihn runterzuziehen. Es liegt an mir, dass ich nicht an mir rütteln lasse.

Weltwoche: Lara Stoll, die gefeierte Slam-Poetin, kritisierte bei den Swiss Music Awards die Banalität Ihrer Musik. Können Sie erklären, wodurch sich Ihre Kunst auszeichnet?

Herzig: Meine Kunst funktioniert, weil ich meinen Kopf ausschalte. Meine Lieder – und das tönt jetzt vielleicht eingebildet – sind meist in ein, zwei Stunden fertig. Ich überlege nichts, absolut gar nichts, sondern vertraue mir. Es flowt einfach, das verdanke ich Gott.

Weltwoche: Ein Geschenk vom Himmel?

Herzig: In der Art. Ich sag immer, Gott ist vorbeigekommen, wenn ich produziere. (Lacht) Sie können es sich so vorstellen: Ich sitze im Studio, da laufen ein paar Akkorde, und ich trete vors Mikrofon, dann lasse ich meine Emotionen raus. «Punto», der Sommerhit von 2019, entstand improvisiert. Als ich das Lied einsang, dachten wir: «Wow, so lassen wir es!» Manchmal bekomme ich selbst Hühnerhaut, wenn wir aufnehmen, und ich frage mich: «Von wo kam das jetzt?»

Weltwoche: Ihnen fliegen auch die Herzen der Frauen zu: Was schätzen Sie, als Womanizer, am anderen Geschlecht?

Herzig: Alles. Ihre Empathie, ihre Zärtlichkeit, aber auch ihre Stärke – ihre ruhige Stärke, die ich auch kritisiere: Frauen leiden oft, weil sie zu sehr im stillen Kämmerlein sitzen und alles schlucken. Ihre Organisationsfähigkeit, ihr Überblick beeindrucken mich. Und Frauen motzen viel weniger als die Männer. Männer jammern, kassieren dann aber die Lorbeeren, während die Frau im Hintergrund alles stemmt. Diese Rollenverteilung stört mich.

Weltwoche: Sind Sie ein Feminist?

Herzig: Nein, ich bin einfach ein Mensch und wünsche mir ein Miteinander. Dass wir die Frauen stärken, statt nur ständig davon zu reden. Je mehr mit dem Finger auf andere gezeigt wird, desto mehr Ungleichheiten entstehen. Für Gleichberechtigung braucht es Geduld, das geht nicht von heute auf morgen.

Weltwoche: Was halten Sie von der Tendenz, dass eine Frau – je länger, je mehr – nicht mehr Frau sein darf?

Herzig: Wieso sollte sie das nicht dürfen?

Weltwoche: Wegen der Gender-Polizei.

Herzig: Ich sage Ihnen etwas ganz Einfaches: Der Grundgedanke ist meist okay, aber Extremisten vermasseln es auch gerne mal. Man soll sich unbedingt dafür einsetzen, wie man sich fühlt.

Weltwoche: Können Sie das erläutern?

Herzig: Kürzlich wurde ich für die Pride angefragt, für einen Auftritt – gratis. Ich sagte nein. Ich meine, warum sollte ich ja sagen? Ich behandle alle Leute gleich, eine Spezialbehandlung wäre ja diskriminierend. Es protestierten auch schon LGBTQ-Leute mit Plakaten an einem Konzert von mir. Damit habe ich kein Problem, ich sage zu dir «Fick dich» – egal, ob du hetero, schwul, lesbisch oder weiss ich was für ein Gender bist. Ich weiss nicht mal, was es alles gibt. Ich sage jedem, der mich doof anmacht, meine Meinung. Egal, was für eine Haar-, Haut- oder Zahnfarbe er hat.

Weltwoche: Ein SRF-Moderator sagte, in Ihrem neuen Song «Mammacita» liessen Sie Frauen wie «Beigemüse» für sich tanzen . . .

Herzig: Ja, und genau das ist sexistisch! «Beigemüse» – aber mir sagen, das Video sei sexistisch! Das müssen wir gar nicht besprechen.

Weltwoche: ...ich wollte fragen, wie es ist, von Frauen umgarnt zu werden.

Herzig: Okay, klar. Es gab eine Zeit, da kamen und gingen bei mir die Frauen. Was mir blieb, war die Einsamkeit. Ich genoss diese Zeit zwar, merkte aber, es erfüllt mich null. Mittlerweile habe ich eine Freundin und bin viel glücklicher als vorher. Ich war damals unsicher und holte mir Bestätigung – so machen es viele.

Weltwoche: Können Sie sagen, wie ein Mann eine Frau heutzutage korrekt anzusprechen hat, um nicht als Sexist verteufelt zu werden?

Herzig: Sich selbst sein, ganz einfach: Das heisst, wenn ich im Bus eine Frau anschaue, sie aber nie zurückschaut, sendet sie mir ein Signal, dass sie nicht angesprochen werden will. Wenn sie zurücklacht, kann ich hingehen und vielleicht sagen: «Hey, du hast mich geflasht.» Aber man sollte nicht zu viel erwarten und gleich sagen: «Hey, gib mir deine Nummer!»

Weltwoche: Was wäre komplett übersteuert?

Herzig: Wenn ich etwas Sexuelles sagen würde, zum Beispiel: «Boah, dein Arsch sieht in diesen Hosen geil aus.» Das geht nicht, man muss auf Augenhöhe miteinander reden. Wenn ich aber merke, eine Frau fühlt sich wohl und präsentiert sich gerne, dann kann man etwas zu ihrem Aussehen sagen.

Weltwoche: Dann sind Frauen in Wirklichkeit gar nicht so sensibel, wie sie dargestellt werden?

Herzig: Nein, gar nicht! Es sind meist auch nicht die Betroffenen, die am lautesten krähen. Mein Problem ist, es wird viel zu viel über Diskriminierung geredet. Angenommen, Sie kommen aus einer fremden Kultur, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Wenn ich Sie dann anschaue und meine Tochter sogar auf Sie zeigt, ist das überhaupt kein Problem. Würde ich meiner Tochter sagen: «Schau weg», dann wäre das doch genau diskriminierend! Nähe klärt auf, nicht Distanz. Aber statt dass wir miteinander reden, zeigen wir mit dem Finger auf die Leute.

Weltwoche: Es kommt also auf den Ton an?

Herzig: Genau. Wir sollten über alles reden können. Wenn ich in Kolumbien in einen Laden komme, lachen sie mir ins Gesicht und sagen: «Hola blanquito!», Weisserchen, damit habe ich null Probleme – ich bin ja weiss, nicht schwarz. Mir ist die Haltung wichtig. Wer aggressiv sagt: «Hey, du Weisser!», löst andere Gefühle aus.

Weltwoche: In Ihren Songs geht es hauptsächlich um Gefühle, um Liebe: Haben Sie den Zauber ergründet, den die Liebe umgibt?

Herzig: Es geht darum, seine Unsicherheiten zurückzunehmen und blind zu vertrauen. Und lieben heisst Freiheiten geben. Wenn meine Frau, die ich liebe, Scheisse baut, rede ich mit ihr und schiesse sie nicht einfach in den Wind.

Weltwoche: Was braucht es für eine funktionierende Beziehung?

Herzig: Der Fehler ist, man schaut oft nach links und rechts, um zu sehen, wie es die anderen machen. Man sollte kommunizieren. Man darf keine Angst haben, wenn die Freundin Lust auf einen anderen bekommt, wenn sie einen anderen Typen sieht. Ist es so, sollte sie das sagen können – völlig okay. Genau in dem Moment, wenn man über alles spricht, wird der Partner krass attraktiv. Oder ist es nicht das Geilste, über alles reden zu können?

Weltwoche: In einem Interview sagten Sie, man kaufe es Latinos eher ab, dass sie für eine Frau sterben würden. Was können Schweizer von dieser romantischen Ader lernen?

Herzig: Wieder: den Kopf abstellen. Mir kommt es vor, als dächten die Schweizer ständig nach. Wobei, Latinos müssten manchmal ein bisschen die Vernunft walten lassen.

Weltwoche: Was kann die Schweiz generell von Kolumbien lernen?

Herzig: Der Latino kann vom Schweizer mehr lernen: Struktur und Pünktlichkeit. Wenn er das mit seiner Grundlebensfreude verbindet, hat er aus beiden Welten das Beste.

Weltwoche: Der Kolumbianer ist viel stolzer auf sein Land. Würde uns Schweizern etwas mehr Patriotismus guttun?

Herzig: Mega! Und man sollte auch nicht gleich das Gefühl haben, dass das irgendwie mit rechtsextrem oder so zusammenhängt. Null! Man kann stolz sein, solange man niemanden ausschliesst oder keine aggressive Haltung vertritt. Stolz mit Freude ist die Lösung.

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