«Mir houeds uf z Joch»

Selbst im Hochsommer kann man im weltbekannten Alpenmassiv von Eiger, Mönch und Jungfrau durch den Schnee stapfen. Wir erlebten einen Tagesausflug mit illustren Bekanntschaften.

Veröffentlicht in Die Weltwoche, 16. Juli 2020

Bild: Roman Zeller.

Bild: Roman Zeller.

Es ist Sonntag, und die ersten Sonnenstrah­len kitzeln; das Wetter ist prächtig, ideal für einen Ausflug in die Berge, was an diesem Morgen nicht vielen in den Sinn gekommen ist. Im Zug vom Berner Hauptbahnhof ins Oberland hocken nur wenige Seelen, einigen sind die nächtlichen Strapazen ins Gesicht geschrieben. «Normalerweise sind diese ­Züge proppenvoll», sagt der Mann, der mir in Interlaken Ost zur Begrüssung den Ellen­bogen hinstreckt. «Und an einem Sonntag sowieso!»

Roland Fontanive, 77, weiss, wovon er spricht: Seit sechzehn Jahren begleitet der Meiringer mit Oberländer Akzent und leichtem Walliser Einschlag regelmässig Besucher durch die Berner Alpen. Willkommen in der Jungfrauregion mit ihrem Dreigestirn: Eiger, Mönch, Jungfrau – imposante Felswände – ­allen voran die majestätische Nordwand des Eigers – und Gletscher, die talwärts züngeln und Besucher von weither anlocken. Ihm falle ein Stein vom Herzen, dass Besucher trotz Corona ins Tal anreisten, sagt unser Guide. Räble tue es zwar nicht ... Der halbleere Zug spricht Bände: «Keine Ausländer, vor allem keine ­Touristen aus Asien – das spüren wir», bemerkt Fontanive. Hingegen freue es ihn, ­nun auch vermehrt Deutschschweizer und Romands ­anzutreffen.

Herzstück der Region

Über den heimischen Andrang, den Fontanive erlebt, unterhielten wir uns vorgängig mit Kathrin Naegeli. Sie leitet die Kommuni­ ­kationsabteilung der Jungfraubahnen, des ­bedeutendsten Bergbahnunternehmens der Schweiz. Das Prunkstück der Firma ist der Bahnhof auf dem Jungfraujoch, 3454 Meter über Meer, so hoch wie kein anderer in Euro­ pa. Seit über hundert Jahren reisen Naturverbundene dorthin, auf das «Jungfraujoch – Top of Europe», wie es Naegeli nennt. Nach dem Lockdown variiere die Zahl der Gäste, die einen Panoramablick auf die Unesco-Welter­ beregion Jungfrau-Aletsch erheischen wollen, je nach Wetter. Die Fahrtzeit von zwei Stun­den, betont die Kommunikationschefin, ­lohne sich aber. Das Herzstück der ­Region müsse man unbedingt gesehen haben, hiess es im Voraus.

Gesagt, getan, und wir sitzen im Zug, ­während Roland Fontanive, der durch den Tag führt, mit dem Zeigefinger der geplan­ten Tagesstrecke auf der Karte nachfährt. Von Interlaken Ost soll die Fahrt via Lauter­brunnen und Wengen auf die Kleine ­Scheidegg führen. Von dort sei es mit der Jungfraubahn einen Katzensprung, um die Endstation zu erreichen. Über Grindelwald sei ein Abstecher nach First für einen Blick auf die Eigernordwand geplant, sofern es ­zeitlich reiche.

Entlang der Lütschine passieren wir Edel­weissblumen. Kurz vor Lauterbrunnen gra­ sen zwei Rehe am Waldrand. Hinter den Tie­ren ­ragen steile Felswände in die Höhe. Über die Gesteinskante sprudelt der Staubbach ins­ ­enge Tal. Die Wasserperlen glitzern in der Morgensonne.Gemächlich erreichen wir Wengen, das noch tief schläft. Später werden wir auf die Wengernalpbahn umsteigen, die die Gäste auf die Kleine Scheidegg transpor­tiert. Die Wartezeit überbrücken wir in den leeren Strassen des charmanten ­Wengen. Hoch von der Kirche bietet sich ein erster Blick auf das Dreigestirn: Eiger, Mönch und Jungfrau in ­voller Pracht. Nur eine Wolkenkrone umgarnt die Spitzen, die Fontanive alle erklommen hat. Ein mythisches Bild. Auf dem Rückweg zum Bahnhof treffen wir Erich, einen Unterneh­mer aus Matten, der im Dorf eine Ferienwoh­nung besitzt. «Salü Roli», grüsst er unseren Tages-Guide, den er seit Jahren kennt, und beginnt mit dem Arm sogleich die traditio­nelle Lauberhornpiste nachzuzeichnen: «Hier, das Silberhorn, da die Jungfrau», so der quirlige Mann.

«1–2–1, siehst du die Buchstaben? Links ­neben dem Silberhorn, die Eisformation im Felsen?», fragt er. «Davon leitet sich der Psalm 121 aus der Bibel ab», der ihm gerade nicht ein­ fällt. Stattdessen lacht er schallend, während er uns einen Kaffee offeriert. «Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt», hätte der Vers gelautet. Da in­terveniert Fontanive: «So, gut jetzt», meint der Reise­leiter hastig und schaut auf seine Uhr. «Chum, mir houeds uf z Joch.»

Im Cockpit

Mit der Bahn passieren wir die Brücke, unter der die Abfahrer durchbrettern. Fontanive, ein ehemaliger Schweizer Elite-Mittelstrecken­ läufer, verweist auf schmale Bergwege. «Da müssen sie sich hochquälen», gibt er sich be­ eindruckt, um den Jungfrau-Marathon-­ Läufern Respekt zu zollen. Es ist ein weiteres Grossereignis, das jährlich stattfindet und für diesen September abgesagt wurde. Der Ziel­ einlauf wäre bei der Kleinen Scheidegg gewe­sen, wo wir auf die Jungfraubahn umsteigen. Von dort sind es noch 7,2 Kilometer bis zum Jungfraujoch, dem ersten Etappenziel.

Mit «Grüessech» heisst der Chauffeur die Fahrgäste willkommen. Er nimmt Platz im Cockpit und setzt die 180,5 Tonnen Rohge­ wicht in Bewegung. Wir dürfen neben ihm sitzen und sehen, wie die Fahrt sogleich in ­einen Tunnel führt und auf dem Rückweg wie­ der daraus heraus. So verlaufen die Schienen minutenlang bolzengerade durch das Berg­ massiv. Tageslicht gibt’s nur bei der Zwischen­ station Eismeer und beim Stollenloch, das mitten in der Eigernordwand liegt und nur ­einen kurzen Augenblick sichtbar ist. Mit sei­nen 33 Kilometern pro Stunde geht es zu schnell, um sich wie ein mutiger Bergsteiger zu fühlen und von der Wand ins Tal zu blicken. Das Faszinierendste, so der Lokführer, sei die unglaubliche Leistung, die bei der Konst­ruktion erbracht worden sei. Von 1896 bis 1912 dauerten die Bauarbeiten, ohne Vermessungs­ geräte und Technik, wie wir sie heute haben. «Das ist eine Meisterleistung», adelt er seine Kollegen aus dem letzten Jahrhundert.

In Turnschuhen im Schnee

Bei der Endstation angekommen, wird er­ sichtlich, dass die ambitionierten Projekte weitergehen: Der Bau eines dritten Gleises in einer zweiten Röhre mit einem Extra-Perron soll mehr Platz für die Besucher schaffen, «bei gleichbleibender Kapazität», wie Medien­ chefin Naegeli betont. Rund eine Million Gäs­ te waren es in den letzten Jahren. Damit sei das Unternehmen glücklich, wie sie ausführt. «Wir wollen aber den Komfort erhöhen.»

Dieser Anspruch wird schwer zu erfüllen sein, weil die Infrastruktur bereits sauber und gepflegt ist, das Personal freundlich und zu­ vorkommend auftritt – nur die Tagespreise (ab 103 Franken) sind grosszügig bemessen, wer­ den aber von den einheimischen Touristen ­ohne Murren gestemmt, weil das Angebot ­derart vielfältig und spektakulär ist.

So führt uns Fontanive zuerst auf die Wet­terstation, die für Forschungszwecke genutzt und nicht kommerziell besichtigt werden könne, wie er erklärt. Die Plattform, die für al­le zugänglich ist, heisst Sphinx, weil der Berg früher einem wachsamen Löwen geglichen ­habe – wie vor einer Pyramide. Heute messen hier Spitzenuniversitäten aus aller Welt die Staubpartikel in der Luft, um die globale Luft­ verschmutzung zu erforschen. «Sogar Wald­brände in Kalifornien können angezeigt wer­den», erzählt der Guide.

Von der Terrasse bietet sich ein 360-GradBlick auf das malerische Alpenpanorama. Am Geländer posiert eine junge Vierergruppe – zwei Frauen, zwei Männer. Im Hintergrund der Aletschgletscher. Munter inszenieren sie sich mit dem flächenmässig grössten Alpen­ gleschter, der zum Unesco-Weltkulturerbe ­gehört – ein Andenken, das sich lohnt.

Wieder im unterirdischen Trakt, schlen­dern wir durch einen Eispalast. Die Tempera­tur misst frostige minus 4 Grad Celsius. ­Wärmer ist es im Höhlengang, kunstvoll von einem Münchner Bühnenbildner bemalt. «Alpine Sensation» nennt sich ­dieser Ab­schnitt mit unterirdischen Attraktionen. Er wurde 2012 von Doris Leuthard zum ­Hundertjahrjubiläum eingeweiht. Hier be­findet sich auch ein ­Museum, das die Pionier­ leistung im hoch­alpinen Eisenbahnbau zum Thema hat.

Erneut an der frischen Luft, stehen wir plötz­lich in Turnschuhen auf sulzigem Schnee. Vier Asiaten bewerfen sich mit Schneebällen. Es seien wohl Studenten, die in der Schweiz ­lebten, mutmasst Fontanive, als er durch das blendende Weiss stapft. Corona, eben ... Als Botschafter für die Jungfrau-­Region war er schon auf der ganzen Welt. Ihm falle der Um­gang mit den Menschen daher leicht, er be­grüsse sie in ihrer Sprache, das e­rmögliche Brücken. «So habe ich sie sofort», wie etwa ­einen ehemaligen chinesischen Spitzenpoliti­ker, den er aufs Jungfraujoch be­gleitete. Fonta­nive kramt ein Foto mit dem Politiker aus seiner Plastikmappe, die stets er im Rucksack mitträgt. «Wir haben ein Riesengaudi ge­habt», erinnert er sich und steigt weiter über den Aletschgletscher.

Eine Tonne Schokolade im Monat

Hier oben, auf 3500 Metern über Meer, wur­den schon etliche Sport-Highlights ausgetra­gen: ein Fussballmatch, ebenso Kricket- oder Basketballspiele. Die Stars kamen extra, um für Spektakel zu sorgen. So Skifahrerin ­Lindsey Vonn und Tennis-Ass Roger Federer, von dem Fontanive zu schwärmen beginnt. «Ein Riesenerlebnis!» Besonders der Basel­ bieter habe ihn beeindruckt, «unkompliziert und bodenständig» habe er sich für alles und jeden interessiert. Der Show-Match zwischen Vonn und Federer wurde von Lindt & Sprüng­ li organisiert zur Einweihung des Souvenir­ ladens bei der Bahnstation, wo wir jetzt ein­ treffen. Fontanive kennt die Kassiererin und bekommt einen Sack Schokoladenkugeln zu­ gesteckt. Sie sagt, sie habe mehr als genug. Während normalerweise eine Tonne Schokola­ de über den Ladentisch rollt, ist es während Corona ein Bruchteil davon.

Mit Proviant bewaffnet, setzen wir uns in den Zug in Richtung Kleine Scheidegg. Der jetzige Chauffeur erzählt stolz von der «Reku peration» und erklärt, wie übers Stromnetz drei runterfahrende Bahnen einen hochfah­ renden Zug antreiben – «Das ist doch genial!». Vorbei am Männlichen führt unser Weg über Grindelwald und mit der Gondel auf First. «Top of Adventure», lautet hier der Slogan, was nicht zu viel versprochen ist. Wer sich auf den «Cliff Walk» traut, sieht frontal gegen­ über die beeindruckende Eigernordwand und unter seinen Füssen ein löchriges Gitter, dar­unter eine überhängende Felswand. Zwei Flug­attraktionen, der «First Glider» und der «First Flyer», garantieren weiteren Nervenkit­zel. Und mit Gokart und Trottinett kann alter­ nativ ins Tal donnern, wer Lust hat.

«Eine gewaltige Aufwertung»

Mittlerweile ist es Nachmittag, und wir befin­den uns auf dem Rückweg nach Interlaken. Als wir bei der Station Grindelwald Terminal hal­ten, zeichnet Fontanive ein V von der Station zwei Drahtseilen entlang hoch zum Berg: Vom neuen Terminal aus führt ab 5. Dezember die 3S-Bahn «Eiger Express» mit 26 Sitzplätzen zum Eigergletscher. Die neue Zehnergondel­ bahn auf den Männlichen wurde bereits im Dezember 2019 in Betrieb genommen. Dies sei «eine gewaltige Aufwertung», erzählt der Tourguide erfreut. Man spare bis zu 47 Minu­ten Reisezeit auf den Berg: «Auch ich», so der passionierte Skifahrer, «wenn ich nicht mit den Tourenski unterwegs bin.»

Er sei in Top-Form, auch mit 77 Jahren. ­Fontanive lacht und streckt uns zum Abschied seinen Ellenbogen entgegen.

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