«Ich könnte General werden»

Sie ist die höchste Frau der Schweizer Armee: Divisionär Germaine Seewer zur Lage der Welt, über ihre beeindruckende Militärkarriere mit einem Einsatz in Afrika und darüber, warum Frauen und Liebe im Dienst kein Problem sind.

Veröffentlicht in Die Weltwoche, 27. Juli 2020

Bild: Paolo Dutto.

Eine Laufbahn wie sie absolvierte noch keine Schweizer Soldatin vor ihr: Was für Divisionär Germaine Seewer mit der Rekrutenschule begann, führte die heute 56-Jährige bis zum Grad eines höheren Stabsoffiziers. Als erste Frau Brigadier verdiente sie jeden Rang ab, alles unter den gleichen Voraussetzungen wie die Männer.

Ende letzten Jahres wurde die promovierte Chemikerin, die an der ETH in Zürich studiert hat, zum Divisionär befördert. Sie führt die Höhere Kaderausbildung in Luzern, wo wir sie in ihrem Büro treffen. An der Wand hängt eine Hellebarde.

Frau Seewer, die Sommerausgabe der Weltwoche dreht sich um die verrückte Welt, in der wir leben. Wie beurteilen Sie die Lage?

Die Corona-Pandemie ist für alle sehr herausfordernd. Sie zeigt uns allen auf, wie eng wir miteinander verknüpft sind. Dieses Virus, das auf der anderen Seite der Welt entsprang, ist nun bei uns und verdeutlicht, wie nah wir uns alle sind.

Es brodelt an verschiedenen Krisenherden. Was besorgt Sie am meisten?

Dass die Menschen, obwohl ihre Erfahrungen jahrhundertealt sind, offenbar nicht aus ihrer eigenen Geschichte gelernt haben. Wir alle hatten ja im Geschichtsunterricht einmal den einen oder anderen schrecklichen Krieg durchgenommen, trotzdem gibt es sie noch.

Als Berufsmilitär sind Sie unweigerlich mit Krieg konfrontiert. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie daran denken?

Heute ist er ganz fies, weil in vielen Konflikten die Zivilbevölkerung in die bewaffneten Auseinandersetzungen hineingezogen wird.

Woran halten Sie sich, um die Hoffnung an die Zukunft nicht ganz zu verlieren?

Ich glaube an das Gute im Menschen, ich habe ein positives Menschenbild.

Angenommen, morgen herrscht Krieg: Was wäre Ihre Rolle?

Das käme auf die konkrete Situation an: Die Bundesversammlung würde Entscheide fällen, den höheren Stabsoffizieren würde eine Aufgabe zugewiesen – entweder die bisherige oder eine neue. Meine Rolle hinge vom Entscheid ab, ob die Höhere Kaderausbildung weitergeführt wird oder nicht. Was genau geschieht, kann ich nicht pauschal sagen.

Sie könnten zum General ernannt werden?

Theoretisch, ja. Jeder, der in der Armee als höherer Stabsoffizier dient, könnte das.

Was ist schlimmer: Krieg oder Pandemie?

Beides hat verheerende Folgen für die Menschheit.

Wie hat das Virus Ihre Weltsicht verändert?

Ich musste nicht auf Corona warten, um vor Pandemien Respekt zu haben. Wer früher Sars oder die Vogelgrippe verfolgt hat, sieht, das ging in die gleiche Richtung. Als Naturwissenschaftlerin weiss ich, dass es wichtig ist, die Umwelt nicht zu unterschätzen: Wir Menschen müssen der Natur mit Respekt begegnen und nicht das Gefühl haben, sie untertan machen zu können.

Können Sie sich an Ihren ersten Kontakt mit dem Militär erinnern?

Klar! Als Kind und Jugendliche sah ich die Truppen, die bei uns im Dorf waren. Dieses Bild war damals noch fest in der Gesellschaft verankert. Die Armee stand für Schutz und Sicherheit.

Hatten Sie ein prägendes Kindheitserlebnis?

Zu Privatem sage ich nichts.

Warum hüten Sie Ihre Privatsphäre derart?

So habe ich das immer gehandhabt. Ich stehe aufgrund meines Jobs manchmal in der Öffentlichkeit. Mein Privatleben hat damit nichts zu tun und ist eben genau das: privat.

Sie studierten Chemie an der ETH. Warum?

Weil mich das Thema, die Naturwissenschaften begeisterten. Schon in der Mittelschule hat mich Chemie angesprochen. Ich dachte: «Moll, das will ich studieren.»

Sie doktorierten am Institut für Nutztierwissenschaften. Was begeistert Sie an Tieren?

Tiere sind Lebewesen wie wir auch, nur anders ausgeprägt. Es war aber mehr das Interesse am Forschungsprojekt, das wir zusammen durchführten.

Eine Arbeit über die Qualität von Schweinefleisch und Schweinefett. Was reizte Sie?

Einerseits war es die analytische Tätigkeit. Andererseits die Einflüsse, die eine Fütterung, eine Rasse oder ein Geschlecht auf das Gewebe haben – also ein ganz klassisches und normales Thema für eine solche Arbeit.

Als junge Frau entschieden Sie sich freiwillig für die Rekrutenschule. Warum?

Der Dienst für die Gesellschaft war in meinem Umfeld etwas Selbstverständliches. Ich wollte meinen Beitrag leisten. Der Schritt, Dienst zu leisten, war also logisch. Ich hatte auch Glück: In meinem Umfeld haben mich alle getragen. Dass ich später die genau gleiche Weiterbildung wie meine männlichen Kollegen machen konnte, gehört zu den Errungenschaften unserer Zeit.

Erinnern Sie sich an Ihren ersten Schuss?

Aber ja, das war für mich nichts Spezielles: zielen, abdrücken und hoffen, dass man das Ziel erwischt.

Was war ausschlaggebend, um Berufsmilitär zu werden?

Die vielen wertvollen Begegnungen während des Milizdienstes haben mich dazu geführt, ins Berufskorps überzutreten. Es war ein Entscheid, der Zeit brauchte.

Ihre Laufbahn begleiteten fast nur Männer. Was schätzen Sie an Ihren Kameraden?

Den Respekt und die gegenseitige Akzeptanz. Und dass man miteinander, unabhängig davon, ob männlich oder weiblich, etwas erarbeitet, auf ein Ziel ausrichtet und gemeinsam eine Leistung erbringt.

Von 2004 bis 2007 waren Sie beim Kompetenzzentrum für Auslandseinsätze. Wo waren Sie im Einsatz?

Ich war bei der Swisscoy im Kosovo und als Militärbeobachter in Afrika. In Äthiopien und Eritrea.

Was haben Sie da gemacht?

Es war die klassische Aufgabe eines Militärbeobachters, eine unbewaffnete Aufgabe: patrouillieren, beobachten und rapportieren – über die Begegnungen mit der Bevölkerung, vor allem aber über die Beobachtungen in und den Austausch mit den Streitkräften.

Wie erlebten Sie Afrika?

Die Menschen habe ich als sehr offen erlebt, trotz Sprachbarriere. Niemand war abweisend. Man darf aber nicht vergessen: Dort herrscht eine ganz andere Kultur; die Frau hat eine andere Rolle als hier. Das muss man respektieren. Sachen, die in der Schweiz gang und gäbe sind, kann man nicht einfach transponieren und sagen: «Hier läuft’s jetzt genau gleich.» Man muss das Land, die Kultur und seine Gepflogenheiten respektieren.

Was ist Ihnen aus dieser Zeit geblieben?

Mir wurden die Freiheiten, die Möglichkeiten bewusst, die wir in der Schweiz haben – im Alltag geht das manchmal vergessen. Und: Wenn der Regen einsetzte, wurde das Land unglaublich farbig, das ist unbeschreiblich.

Heute sind Sie die erste Frau, die, wie ein Mann, den Rang eines Brigadiers erreichte. Warum gerade Sie?

Vermutlich hatte ich den richtigen Rucksack und war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und: Irgendwer muss irgendwann ja die Erste sein. Jetzt bin das halt ich.

Sehen Sie Situationen, in denen weibliche Militärs im Vorteil sind?

Nein, hoffentlich auch nicht! Das wollen Frauen nicht. Wir wollen als gleichberechtigte Partner wahrgenommen werden, nicht als Exoten oder irgendwas, das man besonders behandeln oder schützen müsste. Es geht um gleiche Möglichkeiten, gleiche Chancen – bei gleichen Rechten und Pflichten.

Eineinhalb Jahre lang führten Sie die Führungsunterstützungsbrigade 41, die schweizweit grösste Brigade. Rund 11 000 Mann unterstanden Ihnen. Was sind Ihre Führungsprinzipien?

Wichtig sind mir Kommunikation und Information. Es geht darum, die Sachen miteinander anzugehen, gemeinsam. Und dabei immer daran zu denken: Es sind Menschen, die dahinterstehen. Ihnen gilt es den Sinn einer Aufgabe zu vermitteln.

Wir haben Wehrpflicht. Wie motivieren Sie Unmotivierte?

In unserer Bundesverfassung haben wir das klar festgehalten: Eigentlich sind wir alle – die Männer von Gesetzes wegen – citoyens-soldats, wie es die Romands so schön sagen. Jeder Bürger hat die Pflicht, seinen Teil zur Sicherheit dieses Landes beizutragen. Ist da nicht Motivation die logische Konsequenz?

Beschreiben Sie eine gute Soldatin.

Sie muss sich den Entscheid, Militärdienst zu leisten, gut überlegt haben. Ihr muss bewusst sein, wohin sie geht und dass sie keine Sonderbehandlung erhält, sondern eine Person unter vielen ist. Sie muss gleichzeitig damit umgehen können, dass sie trotzdem auffällt. Man ist nach wie vor eine Minderheit, so lange, bis es selbstverständlich wird, dass Frauen Militärdienst leisten.

Gesucht werden nicht Sportlerinnen mit kurzen Haaren, sondern das richtige Mindset?

Es ist gleich, wie wenn Männer an die Rekrutierung gehen. Je nach Funktion ist eine körperliche Leistungsfähigkeit Voraussetzung. Wenn eine Frau Hundeführerin werden will, muss sie im Sporttest eine bestimmte Anzahl Punkte erreichen – wie der Mann auch. Frausein heisst nicht, dass sie durchgewinkt wird.

Welches Frauenmilitärklischee stört Sie am meisten?

Genau das, was sie mich eben gefragt haben. (Lacht) Dieses Gefühl: Eine Frau macht Militär, das ist speziell – so ist es nicht. Ich meine, das würde ja ein Kleinkindererzieher, ein Mann, auch nicht gefragt werden.

Liebe in der Armee: Geht das?

Ja, sicher. Das ist eine Sache zwischen zwei Privatpersonen. Aber die Betroffenen müssen sich bewusst sein, wenn sie sich in der Rekrutenschule begegnen, gibt es Verhaltensregeln. Das ist wie im Schulhaus. Speziell an der RS ist auch, dass man nicht voreinander fliehen kann, wenn es nicht klappt. Dann sind sie halt für eine bestimmte Anzahl Wochen auf dem gleichen Platz. Aber eben, Liebe . . .

. . . wenn’s passiert, dann passiert’s.

Ja, und es passiert ja auch. Viele Leute haben ihre grosse Liebe im Dienst gefunden und konnten damit auch umgehen.

Inwiefern unterscheidet sich Div Seewer von Germaine Seewer, der Privatperson?

In der Kleidung.

Kein Befehlston zu Hause?

Nein, Jesses Gott. Ich bin auch ein Mensch, ich stehe ja auch nicht hier und brülle rum. Jetzt, hier, bin ich in meiner Funktion, da trage ich Uniform. Privat sind es andere Kleider.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Gesundheit.

Für die Welt?

Offenheit, Zufriedenheit, Freiheit.

Und der Schweiz?

Das Gleiche. Und dass sie es schafft, so zu bleiben, wie sie ist und immer war. Dass sie nicht stehenbleibt, sich nicht verbarrikadiert, den Deckel zumacht und nur noch in sich gekehrt ist. Dass sie ihren Ruf und all die Sachen, die uns ausmachen, beibehalten kann.

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