Sodom und Corona
Zürich hat seine Bars und Cafés wieder. Das Strassenfieber steigt. Auf dem Sechseläutenplatz feiern Teenies, bis die Polizei kommt. An der Langstrasse ist es fast wie früher.
Veröffentlicht in Die Weltwoche, 27. Mai 2020
Zürich, später Freitagnachmittag. Die Sonne scheint, das Wetter ist warm, es zieht die Leute ins Freie, raus auf die Strassen, zum Beispiel auf den Idaplatz im Kreis 3, der an eine italienische Piazza erinnert. Es ist Frühling, und das spürt man – Corona hin oder her.
Zwei Schlenker weiter mit dem Velo, und ich sehe eine lange Menschenschlange quer über den Brupbacherplatz. Manche halten Abstand, andere weniger, bis sie endlich den Glacestand erreichen.
Ich biege links ab in Richtung Lochergut, wo es Eis im Glas gibt, in Würfelform, dazu Alkohol. Das lockt ebenso: Apéro-Durstige warten auf einen Platz an der Sonne.
Schliesslich lande ich am Helvetiaplatz, drinnen in einem Café, weil auch hier die Terrasse knallvoll ist. Freie Tische werden wie Mäuse von Raubvögeln umkreist und attackiert. Während ich Espresso trinke, beobachte ich die Männer, die draussen einer Frau zusehen, wie sie barfuss tranceartig tanzt. Zürich leuchtet.
Den Gästen gefällt’s
Viel ist es nicht, was an diesem Abend an das Coronavirus erinnert. Gut, die Vierertische stehen etwas weiter auseinander als sonst. Aber die physische Distanz verkleinert sich schnell. Die Markierungen, die auf dem Boden kleben, interessieren praktisch niemanden. Die Flasche mit dem Desinfektionsmittel wird kaum eines Blickes gewürdigt.
Augenschein an der Langstrasse, gleich um die Ecke. In der Abenddämmerung werden letzte Mahlzeiten an Bedürftige verteilt. Eine junge Asiatin im Minirock langweilt sich mit einem reiferen Mann. Die Velofahrer preschen anarchisch von der einen auf die andere Strassenseite hinüber.
Mit der Zeit, so gegen acht, sind die Tische und Bänke besetzt. Die Abtrennwände erfüllen ihren antiviralen Zweck: Einmal sind es ausgebaute, alte Fensterscheiben, die Restaurantbesucher voneinander trennen, dann Schichten von Klarsichtfolie, die zwischen zwei Holzstäben aufgespannt sind. Oder milchige Vorhänge, die an eine Verrichtungsbox erinnern, was an der Langstrasse nicht ganz verkehrt ist.
Im italienischen Restaurant, wo ich einkehre, gibt es keine Trennwände. Die Tische stehen weit auseinander. Ich bin froh, einen Platz gefunden zu haben. Zuvor versuchte ich es an x anderen Orten ohne Erfolg.
Die Kellnerin reicht mir zur Begrüssung die Hand. Als ich zögere, zuckt sie mit den Schultern. Bald rennt sie das Trottoir rauf und runter, von Tisch zu Tisch, die alle besetzt sind. Der Chef empfiehlt frischen Fisch, Fleisch, Marktgemüse, Weine, ohne eine Karte zu reichen. Den Gästen gefällt’s.
Natürlich, erzählt die herzliche, aufmerksame Kellnerin nebenbei, laufe es für die Gastronomen nicht gleich wie vor der Pandemie. Das liege an den Auflagen: «Wir könnten mehr bieten, und unsere Gäste wollen mehr konsumieren, nur dürfen wir nicht – so ist es halt.»
Als die Nacht hereinbricht, dreht der Chef die italienische Musik lauter, als wolle er das Bedürfnis nach Mittelmeer und Dolcefarniente stillen.
Aufgetakelte Frauen und herausgeputzte Männer warten, bis sie einen Tisch zugewiesen bekommen. Die Yoga-Pants und Trainerhosen aus dem Home-Office sind passé. Sehen und Gesehenwerden erlebt sein Comeback, nicht nur digital.
Vor der Szenebar an der nahen Kreuzung: knisternde Stimmung. Was geht ab und wo? Ein Polizeiauto rollt im Schritttempo durch das Quartier, nicht zum ersten Mal.
Erdbeerduft im Fahrtwind
Ich schwinge mich aufs Velo und fahre die belebte Langstrasse hoch, vorbei am Plätzchen mit der «Piranha»-Bar, diesem Dreh- und Angelpunkt, wo man sich trifft, trinkt und dann irgendwann heimwärts- oder weitertorkelt. Es hat vielleicht etwas weniger Leute als üblich, trotzdem bilden sich Menschentrauben, wie man es aus der Zeit vor Corona kennt. Angeheiterte stehen zusammen, manche mehr als erlaubt, prosten sich mit Dosenbier zu, blasen Zigarettenrauch in den Abendhimmel.
Die Neugier treibt mich quer durch die Stadt, in Richtung Seepromenade. Auf der Höhe einer Bar, die Wasserpfeifen anbietet, mischen sich Kirsch- und Erdbeerdüfte in den Fahrtwind.
Beim Sechseläutenplatz riecht es nach Marihuana und Bier. Der Boden ist klebrig. Aus den Kübeln quillt Abfall. Scherben liegen herum.
Hier feiern Hunderte Jugendliche, trinken, schreien, rauchen, tanzen. Ihre elektronische Musik dröhnt wild durcheinander. Die einzelnen Gruppen duellieren sich mit portablen Lautsprechern. Teenie-Girls wackeln mit ihren Hintern – eines auf allen Vieren –, als wären sie Jennifer Lopez oder Beyoncé, wecken das Interesse der Jungs. Schnell werden die Abstände kleiner, die Gruppen grösser.
Plötzlich kurvt ein Polizeiwagen slalomartig durch die Party. Kurze Zeit später zieht die Patrouille wieder ab. Insgesamt siebzig Mal habe die Polizei von Donnerstag bis Sonntag in Zürich ausrücken müssen, neunzehn Personen seien gebüsst worden, wie ein Polizeisprecher erklärt.
Letzte Runde
Schnell neigt sich der Tag. Weil die Lokale nur bis Mitternacht geöffnet haben dürfen, will ich wissen, ob das Ende der Polizeistunde auch tatsächlich eingehalten wird.
«Sorry, aber du hättest reservieren müssen», belehrt mich der junge Kellner. Durchgehend, ab acht, seien all seine Tische belegt gewesen.
Ich habe Glück, ein Platz wird frei, und ich bestelle einen letzten Drink. Die Uhr zeigt noch nicht halb zwölf, da macht mich der Kellner auf die letzte Runde aufmerksam. Am Nebentisch sitzt ein Mann mit Filzhut. Als eine stark tätowierte Frau vorbeiläuft, springt er auf, umarmt sie, küsst sie mehrmals innig auf die Wange. Man kennt sich offenbar. Als sie ihm erzählt, dass sie Geburtstag hat, knutscht er sie nochmals ab.
Punkt Mitternacht wird aufgestuhlt, wie verordnet. Ich mache mich auf den Heimweg, der durch die Gassen des Niederdorfs führt, wo plötzlich alles schläft. Es ist totenstill, wie so oft in diesem Frühling.