«Säen und Ernten»
Sexualität ist ein Seismograph im Magma der Gesellschaft. Ändern sich die soziokulturellen Gepflogenheiten, ändert sich der Sex. Ein Gespräch mit der Sexologin Andrea Burri über das Paarungsverhalten der Schweizer, Sexspielzeuge, Orgasmen und weshalb Sex kompliziert geworden ist. Von Michael Bahnerth und Roman Zeller
Veröffentlicht in Die Weltwoche, 3. Juni 2020
Wir führten das Interview mit der Sexualwissenschaftlerin Andrea Burri, 40, am Vormittag im Gartenrestaurant des Zürcher Landesmuseums. Der Morgen war wie ein angenehmer Softporno; die Sonne warf kleine Strahlen fast zärtlich auf den runden Tisch, die Luft war von einer kühlenden Wärme, und das Gespräch floss lieblich dem Mittag entgegen. Vielleicht deshalb fiel in diesen anderthalb Stunden nie das Wort Liebe. Das ist vielleicht die wichtigste Frage, die ungeklärt blieb. Nicht jene, ob Sex ohne Liebe auskommt, das ist klar, sondern vielmehr die, ob Liebe generell ohne Sex auskommt. Und ob diese beiden Grundbedürfnisse des Menschen zu Unrecht stets im selben Atemzug genannt und verflochten werden. Alles andere zum Paarungsverhalten unserer Zeit fand Antworten.
Frau Burri, der Lockdown neigt sich dem Ende zu, das Social Distancing sehen viele lockerer. Es ist Frühling. Was bedeutet das für das Paarungsverhalten der Schweizer?
Es gehen jetzt alle zu Callboys und Nutten und lassen die Sau raus. Nein, natürlich nicht. Ich denke, es wird eine harmonische Auslaufphase geben, zwei, drei Wochen lang vielleicht, aber danach werden andere Dinge wieder in den Fokus geraten. Die Existenzsicherung etwa, weil nicht wenige ihren Job verlieren könnten.
Der Lockdown war für Paare die Zeit des Teilens eines kleinen Nestes, das sie nur gelegentlich verlassen konnten. War deshalb das Bedürfnis nach Orgasmen und die explosive Befreiung, die ein Orgasmus mit sich bringt, grösser?
Absolut. Sex ist, nicht für alle, aber für viele, auch eine Bewältigungsstrategie. Die Menschen hatten auch Zeit dafür. Normalerweise geht man zusammen in die Ferien, zwei Wochen, geniesst die Zeit, und danach ist es wie zuvor. Ich habe das Gefühl, dass es für viele Paare eine Chance und eine sexuell aktivere Zeit war, weil der Alltagsstress nicht so sehr auf ihnen lastete und die Zeitroutine. Wenigstens am Anfang. Auf der anderen Seite aber führte dies bei einigen auch zu Dichtestress und Überdruss. Wir werden in ein paar Monaten sehen, was übrigbleibt – mehr Geburten oder Scheidungen. Aber wenn, wie jetzt, der Alltag seine Routine wiedererlangt, wird auch die sexuelle Aktivität in ihren Normalzustand zurückkehren.
Der sexuelle Normalzustand: Wie viel Sex haben Schweizer im Vergleich zu früher, vielleicht den 1960er und 1970er Jahren? Zumal wir ja in Zeiten leben, in denen Sex allgegenwärtig scheint.
Das scheint mir bloss eine Verzerrung zu sein, dass in diesen vergangenen Zeiten so viel gevögelt wurde. Flower-Power und Woodstock, das waren Mikrokommunen. Aber grundsätzlich, das zeigen Studien, scheint es so zu sein, dass Menschen heute weniger Sex haben als in den 1970ern.
Viel weniger?
Ja. Um die Hälfte weniger. Paare hatten damals im Durchschnitt zwei- bis dreimal Sex die Woche. Heute oft nur noch einmal, wenn überhaupt. Es scheint uns nur so, dass wir heute viel mehr Sex hätten. Das liegt daran, dass die sexuelle Selbstinszenierung so inflationär geworden ist. Fast jeder tut, als wäre er hypersexuell. Geil zu sein, gehört zum Zeitgeist, wer nicht mitmacht, ist raus. Man muss Handschellen geil finden, jede muss einen Kardashian-Hintern haben, jeder ein Sixpack. Das erzeugt einen unglaublichen Druck, der sich auf die Libido auswirkt. Gerade bei Frauen ist die Sexualität auch sehr kognitiv geprägt.
Das heisst, wir haben halb so viel Sex wie vor fünfzig Jahren, weil wir uns selber stressen?
Vielleicht auch, es gibt aber nicht nur diesen einen Faktor. Wir sind, viel mehr als damals, eine Leistungsgesellschaft. Das widerspiegelt sich im Sex, er verliert sein entspannendes Element. Ich kann mir auch vorstellen, dass der Rückgang der gelebten Sexualität, also des Geschlechtsverkehrs, mit dem Rollenverständnis zu tun hat. Dass Frauen und Männer nicht mehr genau wissen, was ihre Rolle ist.
Sie sprechen den Verlust des alten Prinzips «Mann liegt oben, Frau unten» an?
Das ist zu simpel. Der Mann war lange Zeit selbstverständlich der Initiator: «Ich will jetzt», und die Frau musste auch wollen. Jetzt weiss der Mann nicht mehr, was passiert, wenn er sich so verhält wie früher. Er riskiert einen Aufschrei oder seinen sozialen Niedergang. Und weil er nicht mehr das auslösende Element ist, muss die Frau aktiv werden. Gleichzeitig darf sich die Frau, das hat sie gelernt, nicht zu billig hergeben. Das Resultat ist eine Identitätsverwirrung. Manchmal habe ich den Eindruck, wir können unseren Trieben keinen normalen Ausdruck mehr verleihen in jenem Rahmen, in dem es für beide stimmt.
Das heisst, Gleichberechtigung kann in der Sexualität nicht funktionieren, weil es um Macht geht und ihr Skript ein uraltes Rollenverhalten ist?
Ja, aber nicht Macht ausschliesslich im Sinne von Unterdrückung. Männer sind Testosteron-Wesen, sie wollen erobern. Das ist per se nichts Negatives, es ist etwas Natürliches.
Und jetzt macht die Gleichberechtigung den Mann zum Schlappschwanz?
Ein wenig, ja. Wir wissen wirklich kaum mehr, wie wir uns verhalten sollen. Kommt der Mann sexuell fordernd daher, ist er ein Macho. Tut es die Frau, ist sie eine Emanze. Das Resultat ist kein Sex. Dabei ist Sex im Grunde etwas Einfaches, etwas Natürliches, wie alle Grundbedürfnisse.
Wenn das so weitergeht und alle nur über Sex reden oder daran denken, haben wir irgendwann noch weniger bis gar keinen mehr?
Mag sein. Man sieht die Komplexheit ja auch beim Essen. Das ist auch schwieriger geworden, Veganer, Vegetarier, Glutenallergie und so weiter. Nur machen wir ein Riesen-Tamtam daraus. Sex ist mal so, mal so. So ist das eben. Mal hat man Lust auf ein opulentes Dinner, mal auf einen Snack. Manchmal verstehe selbst ich das nicht, diese Leistungsorientierung der Sexualität.
Aber es besteht die Tendenz, dass wir eine Gesellschaft von Onanisten werden könnten?
Ja, weil beim Masturbieren ich bestimmen kann, es ist zielorientiert. Deswegen boomt ja der Markt der Sextoys auch gerade so. Letzthin bekam ich 24 Sextoys zugesandt, etwa 20 davon dienten zur Selbstbefriedigung.
Sex mit Objekten anstelle von Menschen?
In diese Richtung läuft es: Ich will es so, wie’s mir passt, und mir nicht die Zeit nehmen, um mich – so ist es beim Daten ja auch – wirklich auf den Partner einzulassen. Dann nimmt Frau den Womanizer, der die perfekte Technologie hat und den man nur auf die Klitoris drücken muss. Da muss man keinem Partner sagen: «Mach das mit der Zunge so und so!» Was auf der Strecke bleibt, ist die Kommunikation, die Sex ja auch ist, das gemeinsame Säen und Ernten der Sexualität. Ich habe gehört, dass jetzt bald ein revolutionäres Sextoy für den Mann auf den Markt kommen soll.
Eine Penispumpe?
Es ist noch streng geheim offenbar, soll aber ganz toll sein, ein Manizer, der einen «Orgasmus, wie die Frau ihn hat» verspricht. Nur, will der Mann das?
Ähh . . .
Genau. Weil das heisst, dann meist keinen, weil viele Frauen gar nicht kommen.
Erzählen Sie uns etwas über den weiblichen Orgasmus.
Es gibt Theorien, die davon ausgehen, dass der Orgasmus der Frau keine Funktion habe. Dass er ein phylogenetisches Überbleibsel des Männlichen sei. Physiologisch braucht es den Orgasmus der Frau nicht. Wahrscheinlich dient er dem Bonding und ist dazu da, dass die Frau stets wieder Sex will, obwohl sie weiss, dass sie die Hauptlast der Folgen zu tragen hat. Ohne hätte sie ja keine Motivation, immer und immer wieder die Beine breit zu machen.
Weiss man, wie sexuelle Vorlieben entstehen?
Ja und nein. Es ist wie alles bio-psycho-sozial. Wir verfügen über eine biologische Prädisposition. Welche Gene – und es sind höchstwahrscheinlich Hunderte, nicht nur eines –, das hat man noch nicht identifiziert. Hinzu kommt dann eine Gen-Umwelt-Interaktion. Ein Mensch trägt eine Genkombination in sich, die zu einer Prädisposition von – zum Beispiel – Exhibitionismus führt. Irgendwann wird das geweckt, vielleicht, weil einer beim Onanieren von seiner Tante erwischt wurde und dieses Moment als so geil empfand, dass er es immer wieder reproduzieren möchte.
Leben wir in Zeiten, in denen sich das Konzept der Monogamie gerade verabschiedet?
Ja. Wobei ich finde, dass es noch nie eine absolute Legitimität besass. Ich verstehe nicht, weshalb wir in diesen Dichotomien denken: monogam versus polygam und so weiter. Ich glaube, die Sexualität verhält sich fluktuierend, das heisst, es kann sein, dass das Bedürfnis, mit einem Partner zusammen zu sein, sich verflüchtigt. Es ist wie mit homo oder hetero: Man muss sich stets schubladisieren, sich entscheiden für immer und ewig. Aber das ist nicht so, es kann sich ändern.
Gibt es physiologische Indikationen für einen guten Sexualpartner?
Es gibt Studien, die sagen: ja. Kennen Sie die T-Shirt-Schnüffel-Studie, nein? Frauen mussten an T-Shirts riechen, die eine Reihe von Männern getragen hatten. Es stellte sich heraus, dass sie den Mann am attraktivsten fanden, der ein komplementäres Immunsystem hat. Um dem möglichen Nachwuchs das beste Immunsystem zu gewährleisten. Man nennt das den Major Histocompatibility Complex.
Das heisst, man glaubt nur, dass man frei wählt, obwohl die Wahl schon getroffen ist?
Könnte sein.
Ab wann lässt das sexuelle Begehren nach, wenn überhaupt?
Es lässt tendenziell nach, wenngleich auch nicht bei allen gleich stark. Ich hatte einen 89-jährigen Patienten, seine Frau war 75. Er kam, weil er sich sexuell optimieren wollte. Er dachte, mit seiner Frau stimme was nicht, er könne sie gar nicht mehr wirklich penetrieren. Ich habe mit der Frau geredet. Sie sagte, ihr Mann sei so alt, und meistens finde er den richtigen Eingang nicht mehr, aber sie lasse ihn im Glauben, dass alles gut sei.