Naomis Traum

Der Tessiner Pierre Tami sah in Kambodscha Kinder sterben und begann, sich humanitär zu engagieren. Seit er seine Tochter verloren hat, sammelt er Geld für ihr soziales Vermächtnis. In der Schweiz bislang vergebens.

Veröffentlicht in Die Weltwoche, 24. Juli 2019

Bild: zVg.

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Eigentlich unbegreiflich, dass die Schweiz ständig mit Schweden verwechselt werde, sagt Pierre Tami aus Bellinzona und lacht. «Nur», und seine Miene verfinstert sich schlagartig, «in meinem Fall sind es wirklich die Schweden und nicht die Schweizer, die mich finanziell unterstützen.» Wir treffen den Sozialunternehmer in einem Bistro nahe des Kultur- und Kongresszentrums Luzern. Der Sechzigjährige hat soeben einen Vortrag am World Tourism Forum gehalten. Thema war die Academy of Culinary Arts Cambodia, seine Hotelfachschule in Kambodscha.

Die Schweiz war ihm zu langweilig

Vor dem Auftritt sei eine omanische Staatsvertreterin auf ihn zugekommen. «Sie hat mir gesagt, sie brauche in ihrem Land Leute für die Gastronomie», berichtet Tami, um euphorisch anzufügen: «Ich habe gutausgebildete Leute!» – «Wie es dazu kam?», wiederholt er die Frage, was ihn nach Kambodscha verschlagen und zum persönlichen Berater des Premierministers gemacht habe. Er grinst. «Sobald etwas unmöglich scheint, sage ich: ‹Ich mach’s!›» Als Beispiel nennt er das südostasiatische World Economic Forum. Er wollte es nach Kambodscha bringen, was ihm 2017 gelang. Seither stehe er der Regierung nahe. «Dass es mich aber vor fast dreissig Jahren nach Kambodscha gezogen hat, war reiner Zufall.»

Eine internationale Karriere lag zu Beginn in weiter Ferne. Bescheiden waren die Verhältnisse, in denen Tami aufwuchs. Der Vater war Armeeoffizier, während sich die Mutter um fünf Kinder und Pierre, den Jüngsten, kümmerte. Nicht alles verlief nach Plan. Tami absolvierte nur acht Schuljahre. «Ich bin kein Akademiker», sagte er. Seine Stärken lägen anderswo. «Ich bin ein Macher.»

Seinen beruflichen Weg begann Tami mit mehreren Praktika, bis er auf ein Inserat der Swissair stiess. Der Passagierservice in Kloten, erzählt er heiter, habe ihm «Schweizer Perfektion» eingetrichtert. Gleichwohl habe ihn die Arbeit nicht erfüllt. «Ich hatte das Bedürfnis, raus zu den Menschen zu gehen, denen es am schlechtesten geht. Denen wollte ich helfen.»

Die Schweiz sei ihm zu langweilig gewesen. Viel lieber habe er – damals 22 und rebellisch – die Welt verändern wollen. Seine Frau Simonetta, eine Bankangestellte, ebenso. Und so packten sie kurzentschlossen ihr Hab und Gut, zogen nach Asien und landeten 1990, mit bereits drei Töchtern im Schlepptau, in Kambodscha.

«Meine Eltern dachten, ich sei verantwortungslos», erinnert sich Tami. Damals herrschte Bürgerkrieg in Kambodscha. «Mir kommt es vor, als sei es gestern gewesen, dass ich nach meiner Ankunft die aufgelöste Mutter mit ihrem toten Säugling im Arm sah. Das war schrecklich.» Der Anblick habe ihm fast das Herz zerrissen, aber gleichzeitig den Drang verstärkt, sich für diese Menschen einzusetzen. Und so begann Tami, der gläubige Christ, tätige Nächstenliebe zu üben.

Herztod in New York

1994 gründete er zusammen mit seiner Frau die Organisation Hagar, die sich um missbrauchte Kinder und Frauen kümmerte. Tami bezeichnet sein Engagement als Kombination von Glaube und Vision. Die Familie hielt auch durch, als sie sich inmitten des Kriegsgebiets befand. «Wir sind nicht abgehauen», sagt Tami. Noch heute existiert Hagar als Anlaufstelle für Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution.

Als die letzten Einheiten der kommunistischen Roten Khmer 1998 nach dem Tod des Diktators Pol Pot endgültig kapitulierten, besserte sich die Lage in Kambodscha. Und Tami wollte fortan einen Beitrag über die reine Opferhilfe hinaus leisten. «Die Menschen und das Land waren perspektivlos. Es mussten Arbeitsplätze her.» So gründete Tami «hybride Organisationen», wie er sie nennt, wirtschaftlich profitabel und trotzdem nachhaltig und sozial. «Dadurch wollte ich den Ärmsten helfen, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern.»

Dieses Engagement begann mit einem Catering. Stolze 450 Menschen beschäftigt das von Tami gegründete Unternehmen heute, von denen mehr als ein Drittel Opfer des Menschenhandels waren. «Es ist das grösste Catering-Unternehmen in Kambodscha. Die Idee, profitabel und nachhaltig zugleich zu sein, funktioniert also. Das ist Win-win.»

Begeistert erzählt er von einem weiteren Projekt, einer kulinarischen Akademie. Die Vision dazu stammt von ihm und seiner jüngsten Tochter Naomi, die sich zur Hotelière ausbilden liess. Er hält inne. Mit der linken Hand tippt er auf seinen Handy-Bildschirm. Das Porträt einer hübschen jungen Frau leuchtet auf. «Naomi ist mit 23 Jahren gestorben.»

Tamis Tochter war in New York, als ihr Herz aufhörte zu schlagen. Der Herzfehler war angeboren. Ich betrachte noch immer das Telefon, da unterbricht mich Tami energisch. «Naomis Traum soll weitergehen und zum Traum anderer werden.» Auf diese Weise kanalisiere er den Verlust in einen guten Zweck.

Seine Culinary Academy ist ebenfalls ein Hybrid, nachhaltig und profitabel, wie das Catering. Sie bildet Benachteiligte aus und ebenso Privilegierte. Derzeit seien es 29 Bedürftige von insgesamt 220 Studenten, die Zugang zum Lehrgang haben.

Jobs in Fünf-Sterne-Hotels

Die Ausbildung an der Schule dauert zwei Jahre und wird von der Partnerinstitution, der Hotelfachschule Luzern, zertifiziert. Dass die Studenten dafür nur rund viertausend Franken bezahlen müssten, verdankten sie dem schwedischen Staat, der Tamis Academy unterstützt. Die Benachteiligten, die sich den Betrag nicht leisten könnten, finanziere die Stiftung Shift360, die Tami zu Ehren seiner Tochter gegründet hat.

«Die unterschiedlichen sozialen Schichten profitieren voneinander», sagt Tami. «Das Können der Absolventen spricht für sich.» Ehemalige Schüler bekommen Jobs in Pariser Michelin-Restaurants oder Fünf-Sterne-Hotels in Dubai, Kioto oder Bangkok.

Das sei ausschlaggebend dafür gewesen, dass die Schweden derart begeistert seien. «Ihnen gefiel das Konzept» – anders als der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza), wie er anfügt.

Auf Anfrage bestätigt die Deza, dass keine Gelder des Bundes in Tamis Projekte fliessen. Das Problem liege darin, dass Arm und Reich durchmischt würden und nicht nur Benachteiligten geholfen werde. Tami kennt den Einwand. Die Philosophien seien eben verschieden, meint er. «Würden wir nur ehemalige Opfer ausbilden, blieben sie

working poors

und unter ihresgleichen. Das ist die Realität.» Er glaube, dass auch armen Menschen eine international anerkannte Ausbildung offenstehen müsse. Dass Tami bei den Schweizern seit 2012 bislang vergebens angeklopft hat, entmutige ihn nicht, wie er sagt. «Klar ist es frustrierend, aber ich werde es weiter versuchen.»

Nach zwei Stunden verabschiedet er sich. Er müsse weiter, er fliege am Folgetag nach New York, um an einer Konferenz Spenden zu beantragen. Danach freue er sich auf ein Wochenende unter Freunden mit einer Grillparty und Formel 1. Er sei ein grosser Fan des Schweizer Rennstalls Sauber, ausgerechnet jenes Teams, das 2016 durch schwedische Vorschusszahlungen seine Mitarbeiter bezahlen konnte. Tami lacht. «Sauber wurde von der Schweiz auch nie unterstützt, sondern von Schweden – genau wie meine Academy. Ich bin also wie Sauber.»

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