«Wer ist Ihr Lieblingsgegner? – «Ich!»

Der Unterwalliser Daniel Yule, 27, ist der beste Slalomfahrer der Schweizer Geschichte. Hier spricht er über Motivation in schwierigen Zeiten und seine Anfänge als Fussball-Torhüter.

Veröffentlicht in Die Weltwoche, 25. November 2020

Bild: Paolo Dutto.

Weltwoche: Herr Yule, wenn Sie an den Corona-Winter denken: Wie ist Ihre Gemütslage?

Daniel Yule: Eigentlich ganz gut. Ich hoffe, wir können die geplanten Rennen durchführen. Das wäre für alle wichtig – die Verbände, den Skisport und für uns Athleten. Der Start in Sölden lief flüssig. Hoffentlich geht es so weiter.

Weltwoche: Im Dezember startet die Slalomsaison – ohne Zuschauer. Was löst die Vorstellung von Geisterrennen bei Ihnen aus?

Yule: Skifahren heisst für mich Emotionen. Ohne Zuschauer bleibt nur der rohe Sport. Ich werde mich anpassen müssen, weil ich von der Energie der Fans lebe. Ich liebe die Atmosphäre auf der Piste. Das werde ich sicher vermissen. Wir können uns aber glücklich schätzen, dass überhaupt Rennen stattfinden.

Weltwoche: Im Sommertraining braucht es mentale Stärke, um sich für das Fernziel im Winter zu motivieren. Wie konnten Sie optimistisch bleiben und weitertrainieren?

Yule: Gut war, dass es in vielen Sportarten wieder losging. Plötzlich wurde wieder Fussball gespielt. Ich sagte mir: «Ich trainiere jetzt hart, und wenn es nicht für diesen Winter ist, nützt es mir im nächsten.» Ein guter Trainingstag ist nie verloren. So ging’s einfacher.

Weltwoche: Wie denken Sie über diese Pandemie? Fürchten Sie sich?

Yule: Nein, ich bin nicht gefährdet. Mir war anfangs unwohl, weil mein Vater über siebzig Jahre alt ist. Zum Glück blieben wir alle gesund. In Branche d’en Haut im Wallis waren wir zu weit weg vom Schuss für das Virus. Mit nur vierzehn Einwohnern war es leicht, zwei Meter Abstand einzuhalten. (Lacht)

Weltwoche: Sie wohnen immer noch bei Ihren Eltern im Val Ferret im Unterwallis. Erzählen Sie von Ihrer Kindheit. Was hat Sie geprägt?

Yule: Ich bin sehr glücklich aufgewachsen. Wir waren viel draussen. Wir haben jeden Tag eine Runde gedreht – auch wenn es regnete. Im Sommer spielte ich Fussball, im Winter war ich im Skiklub. Das machten alle meine Schulfreunde so. Beim Skifahren kam meine Wettkampfnatur auf Touren.

Weltwoche: Auf welcher Position spielten Sie Fussball?

Yule: Ich war Goalie.

Weltwoche: Ausgerechnet! Warum?

Yule: Weil das Aufwärmen weniger anstrengend war. Die Mannschaft musste auf dem ganzen Platz hin- und herlaufen. Ein Goalie aber musste nur ein bisschen nach links und rechts springen und ein paar Bälle fangen – that’s it.

Weltwoche: Welche Werte wurden Ihnen mitgegeben?

Yule: Respekt – und immer danke und bitte sagen. Höflichkeit war ganz wichtig. Sonst: Humor, Spass haben – wir hatten es immer lustig. Meine Eltern mussten nie streng mit uns sein. Sie unterstützten uns in allem. Wir sollten uns wohl fühlen, mussten aber auch mithelfen. Bei uns zählten die einfachen Dinge im Leben.

Weltwoche: Hatten Sie Vorbilder?

Yule: David Beckham. Ich bin kein Hardcore-Fussballfan, aber ich wollte sein wie er. Und ich bewunderte natürlich alle Schweizer Top-Skifahrer: Mike von Grünigen und die beiden Didier – Cuche und Defago.

Weltwoche: Wie kam der Skisport in Ihr Leben?

Yule: Das erste Mal, glaube ich, bin ich mit zwei Jahren auf den Ski gestanden, später dann an jedem freien Tag. Die Eltern setzten uns am Morgen beim Bügellift ab und holten uns wieder um fünf Uhr.

Weltwoche: Ab wann fuhren Sie Rennen?

Yule: Ziemlich früh. Aber es faszinierte mich nicht sonderlich. Ich war im Skiklub, weil alle anderen im Skiklub waren. Ich war kein Naturtalent. Das Klubrennen gewann ich nie. Ich war nur der Dritt- oder Viertbeste meines Jahrgangs. Mein Ziel war irgendwann, schneller als die anderen zu fahren. Danach wollte ich schneller sein als meine Freunde im Unterwallis, dann als alle im Wallis, in der Westschweiz und in der Schweiz. Es ging immer so weiter.

Weltwoche: Was wäre aus Ihnen geworden, wenn nicht Skirennfahrer?

Yule: Anwalt. Ich bin hartnäckig, wenn etwas ungerecht ist. Wenn mich etwas stört, sage ich es. Ich kämpfe, wenn mir etwas am Herzen liegt.

Weltwoche: Warum studierten Sie Wirtschaft und nicht Jura?

Yule: Oh, das ist so viel Aufwand.

Weltwoche: Sind Sie ein Minimalist?

Yule: Nein, nein. (Lacht) Wäre ich nur Student gewesen, hätte ich Jura studiert. Aber mit dem Skifahren wäre das nicht aufgegangen. Aber ich gebe zu, ich bin schon ein bisschen faul.

Weltwoche: Wann wussten Sie, dass es im Skisport für die Spitze reicht?

Yule: Das weiss ich immer noch nicht. Mein Vater sagte immer, dass ich mir mein Leben einmal mit dem Kopf und nicht mit den Beinen verdienen würde. Ich aber hatte Spass am Skifahren, und es lief nicht so schlecht. Darum machte ich weiter, fuhr bald Weltcup-Rennen und schaffte es in die Top 30. Mit dem Fernstudium hatte ich einen Plan B. Seit ich es abgeschlossen habe, merke ich langsam, dass ich jetzt ein Skirennfahrer bin.

Weltwoche: Wissen Sie, wie viel Ihr Weg zum Skirennfahrer gekostet hat?

Yule: Viel, etwa 15 000 Franken pro Saison. Im letzten Jahr, als ich im Leistungszentrum war, sagte ich mir: Wenn ich es jetzt nicht ins Zwischenkader schaffe, höre ich auf. Alles andere wäre meinen Eltern gegenüber unfair gewesen.

Weltwoche: Was braucht es sonst noch, um Profi zu werden?

Yule: Spass an der Sache. Aber das braucht es bei allem. Im Frühling braucht es viel, um in den Kraftraum zu gehen. Wenn ich mich dafür einmal nicht mehr überwinden kann, weiss ich, es ist Zeit, um aufzuhören.

Weltwoche: Was begeistert Sie am Skifahren?

Yule: Die Geschwindigkeit – das ist richtig geil. Der andere Reiz ist, etwas an der Weltspitze ausüben zu können. Ich könnte mir das auch in einer anderen Disziplin vorstellen, in der Wissenschaft zum Beispiel.

Weltwoche: Wie viel verdienen Sie? Kann man reich werden?

Yule: Ich verdiene gut. Wir haben das Glück, dass Skifahren bei uns ein Nationalsport ist. Sobald man aber nicht mehr in den Top 30 ist, wird es sehr hart. Die Löhne gehen rasant nach unten.

Weltwoche: Wenn Sie im Starthaus stehen und in den Steilhang blicken, was geht Ihnen durch den Kopf?

Yule: Ich sage mir: «Ich habe alles getan, um jetzt hier zu sein. Gib alles – und geniesse es!»

Weltwoche: Skifahren ist ein Balanceakt zwischen Risiko und Sicherheit: Wie gleiten Sie erfolgreich auf dieser messerscharfen Kante?

Yule: Das passiert unbewusst. Wir haben keine Margen. Ich gehe immer ans Limit. Manchmal klappt’s, ab und zu gehe ich darüber hinaus.

Weltwoche: Wissen Sie während der Fahrt, ob Sie schnell sind?

Yule: Nein. Es kann sein, dass man unten total überrascht ist.

Weltwoche: Was unterscheidet einen schnellen von einem sehr schnellen Slalomfahrer?

Yule: Das zwischen den Ohren.

Weltwoche: Was ist beim Slalomkönig im Kopf anders?

Yule: Das weiss ich nicht. Bei einem, der einen super ersten Slalomlauf hinlegt, kann man sich auch denken: «Oha, der ist gut.» Um zu gewinnen, muss man das Gleiche aber nochmals machen – am gleichen Tag.

Weltwoche: Wie gehen Sie mit diesem Bestätigungsdruck um?

Yule: Was für ein Druck? Das ist Spass! Ich starte im zweiten Lauf viel lieber als Erster anstatt als Zehnter. Dafür trainiere ich. Diese Ausgangslage ist genau das, was ich will.

Weltwoche: Was unterscheidet Slalomfahrer von Abfahrern?

Yule: Das müssen Sie die Abfahrer fragen. Sie denken, wir im Slalom spinnen. (Lacht)

Weltwoche: Ich dachte, das sei umgekehrt.

Yule: Abfahrer sind gemächlicher, sie müssen mehr Geduld haben. Wenn schlechtes Wetter ist, kann es sein, dass das Rennen verschoben wird. Bei uns wird sowieso gestartet. Der erste Lauf ist um zehn Uhr. Wir müssen früh aufstehen, es geht Schlag auf Schlag. Am Nachmittag ist der zweite Lauf. Aber die Abfahrer spinnen auch. In Kitzbühel würde ich mich nur ungern die Piste runterstürzen.

Weltwoche: Wer ist Ihr Lieblingsgegner im Weltcup?

Yule: Ich! Das ist das Schöne am Skisport: Man kämpft gegen sich und die Zeit. Wenn ich im Ziel stehe, kann ich keine Ausreden bringen. Wenn ich verliere, bin ich zu langsam gefahren.

Weltwoche: Gegen welche Nation schmerzen Niederlagen am meisten?

Yule: Gegen andere Schweizer. Sie haben die gleichen Möglichkeiten und die gleiche Vorbereitung. Dann trifft mich meine Selbstkritik fast noch mehr, weil ich weiss, dass meine Leistung wirklich nicht gut war.

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