«Ehrlich gesagt, es läuft schon gut hier»

Botschafter Jürg Lauber, 57, ist ein Architekt des umstrittenen Uno-Migrationspakts. Im Gespräch verteidigt er sein Werk. Und erzählt über seinen Werdegang als Diplomat.

Veröffentlicht in Die Weltwoche, 25. November 2020.

Bild: Roman Zeller.

Bild: Roman Zeller.

Zwei Jahre sind vergangen, seit der Uno-Migrationspakt die Welt bewegte. Die Rede war von einem «ausgeweiteten Flüchtlingsbegriff», der Wirtschaftsmigranten mit einschliesse, von einer «globalen Personenfreizügigkeit». Auch in der Schweiz erhielt die Konvention viel Aufmerksamkeit. Interessant ist, dass mit Jürg Lauber ein Schweizer als Co-Autor des Papiers mitwirkte. Diesen Sommer wechselte Botschafter Lauber von New York nach Genf, wo er wiederum die Schweizer Uno-Mission leitet. Wir treffen ihn in seinem Büro zum Gespräch über den Migrationspakt, die Uno und sein Leben in der Diplomatie. Es ist das erste grosse Interview, das Lauber einer Zeitung gibt.

Weltwoche: Herr Lauber, Sie wirken auf höchster Stufe in der internationalen Diplomatie. Warum sind Sie Botschafter geworden?

Lauber: Es war Zufall. Ich studierte Jus in Zürich und war noch nicht sicher, wie es nachher weitergehen soll. Als ich fertig war, ergab sich die Möglichkeit für einen Einsatz in der Schweizer Sanitätseinheit bei den Uno-Friedenstruppen in Namibia. Als ich zurückkehrte, hörte ich, es werde jemand in Korea gesucht, wieder für eine Friedensmission. Da hatte ich das erste Mal Kontakt mit einer Schweizer Botschaft. Und das hat mich interessiert. Dann probierte ich halt den Diplomaten-Concours; der Rest ist Geschichte.

Weltwoche: Was faszinierte Sie an der Diplomatie?

Lauber: Mich begeisterten früher schon Staats- und Völkerrecht, internationale Beziehungen und Politik – wie Länder funktionieren, zusammenarbeiten oder eben nicht. Die Neugier aufs Fremde, auf andere Länder und deren Verbindungen zur Schweiz wurde mir allerdings nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Meine Eltern hatten nicht die Mittel für Reisen an exotische Destinationen.

Weltwoche: Ihre Karriere führte nach New York, wo Sie die Schweiz bei der Uno vertraten. Heute leiten Sie die Schweizer Uno-Mission in Genf. Können Sie in ein paar wenigen Sätzen umreissen, wofür es die Uno braucht?

Lauber: Das steht in der Präambel: «[. . .] künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren». Der zentrale historische Zweck ist, die Katastrophen zu vermeiden, wie sie die Welt im 20. Jahrhundert zweimal erlebte. Ob die Uno der Grund ist, weshalb wir keinen Weltkrieg mehr hatten, oder nicht in diesem Ausmass, ist schwer zu beweisen. Ich gehe aber davon aus, dass sie einen Beitrag geleistet hat.

Weltwoche: Was wäre auf der Welt anders, wenn es die Uno nicht gäbe?

Lauber: Wir wissen es nicht. Aber man darf schon sagen, dass es eindeutige Leistungen gibt: die Begleitung von Ländern aus der Kolonialisierung in die Selbständigkeit, die friedenserhaltenden Aktionen, um Konflikte zu vermeiden oder regional nicht grösser werden zu lassen; dann die Errungenschaften im Bereich der ganzen Entwicklungsfragen. Bei humanitären Katastrophen gibt es keine Organisation, die so schnell so grosse Hilfeleistungen erbringt wie die Uno.

Weltwoche: Was war die grösste Leistung der Uno, seit Sie die Schweiz dort vertreten?

Lauber: Die Entwicklungsagenda 2030. Sie wurde vor fünf Jahren beschlossen. Schon damals wurde lautstark Kritik am Multilateralismus geäussert. Dass man eine Einigung erzielte, begeistert mich je länger, je mehr. Ich will nicht übertreiben, aber diese Agenda ist der Fahrplan zur Rettung der Menschheit.

Weltwoche: Müssen Diplomaten grenzenlose Optimisten sein?

Lauber: Man muss Realist bleiben, aber Optimismus hilft.

Weltwoche: Wie ist das Verhältnis zwischen Realismus und Idealismus bei Ihnen?

Lauber: Ich bin mehr Realist. Idealismus hilft jedoch, um immer wieder nach Opportunitäten zu suchen. Damit man in Konflikten, die nicht enden zu wollen scheinen, wie in Syrien oder Jemen, nicht den Griffel fallen lässt, sondern sagt: «Okay, es ist schwierig, aber was können wir machen?» In solchen Situationen sind wir Schweizer gut – pratmatisch, aber auch nicht leicht zu entmutigen.

Weltwoche: Was ist das drängendste Problem der Uno?

Lauber: Der Ansatz der Agenda 2030 ist eben nicht, nur das drängendste Problem anzupacken. Wir müssen gesamtheitlich vorgehen. Es geht darum, wie wir uns gegenseitig helfen können, um bessere Lösungen zu finden. Wenn Sie aber ein Beispiel wünschen: Der Klimawandel ist sicher ein besonders drängendes Problem. Wir sehen, wie das eintritt, was uns die Wissenschaft schon lange ankündigt. Das ist auch eine Bedrohung für den Frieden auf der Welt.

Weltwoche: Das Uno-Gremium, das sich mit Fragen von Krieg und Frieden beschäftigt, ist der Sicherheitsrat. Die Schweiz bewirbt sich um einen Sitz. Halten Sie das für sinnvoll?

Lauber: Ja. Ich glaube, wir können einen Beitrag leisten. Nur schon unser Friedenskonzept: Als eines der ersten Länder hatten wir eine Abteilung für menschliche Sicherheit. Frieden heisst für uns nicht nur «kein Krieg» oder «kein Waffenlärm». Es geht um mehr, zum Beispiel um soziale Entwicklungen. Zudem haben wir einen Pool von international anerkannten Mediationsexperten. Es gibt auf der Welt nicht viele Länder, die in brenzligen Situationen vermitteln können.

Weltwoche: Kann ein kleines Land im Sicherheitsrat wirklich Einfluss nehmen?

Lauber: Das passiert immer wieder. Als ich in New York war, gehörte Schweden zum Sicherheitsrat. Es trug in Syrien wesentlich dazu bei, eine Regelung zu schaffen, wie Zugang für die humanitäre Hilfe gewährleistet werden kann.

Weltwoche: Im Sicherheitsrat geht es auch darum, bei Konflikten Position zu beziehen: Wie lässt sich das mit der Schweizer Neutralität vereinbaren?

Lauber: Im Sicherheitsrat stimmt man in aller Regel nicht ab, man einigt sich. Kommt es trotz aller Bemühungen zur Abstimmung, erweckt das häufig sehr grosse Aufmerksamkeit in den Medien.

Weltwoche: Was, wenn es dazu käme?

Lauber: Für den neutralitätsrechtlichen Aspekt im Kern ist das kein Problem. Wenn der Sicherheitsrat bei einem Konflikt einen Beschluss fasst, geht es darum, Frieden zu sichern, nicht Krieg zu führen. Das ist neutralitätsrechtlich unbedenklich, auch weil die Uno aus völkerrechtlicher Sicht nie Kriegspartei ist.

Weltwoche: Der Bundesrat musste jüngst die Frage beantworten, wen die Schweiz unterstützen würde, sollte die Hongkong-Frage vor den Sicherheitsrat kommen: die USA oder China. Die Antwort sympathisierte mit der Position der USA, ohne China zu brüskieren. Hart auf hart, würde sich die Schweiz wohl enthalten. Was bringt unter solchen Bedingungen die Mitgliedschaft im Sicherheitsrat?

Lauber: Es ist nicht sinnvoll zu spekulieren. Gibt es eine konfrontative Abstimmung, muss man ganz genau schauen, worum es geht, was der Situation dient und inwiefern die Vorschläge unseren Zielen und Werten entsprechen. Dann kommt man zu einer Position. Wenn man zum Schluss kommt, der Vorschlag dient der Situation überhaupt nicht, stimmt man dagegen oder man enthält sich.

Weltwoche: Bevor Sie Leiter der Uno-Mission wurden, arbeiteten Sie auf der Schweizer Botschaft in Peking, China. Wie denken Sie über dieses faszinierende Land, dessen Aufstieg auch Ängste auslöst?

Lauber: Ich habe viel Respekt vor der Geschichte, vor dieser unglaublichen Grösse, die unsere Vorstellungskraft sprengt. China hat ein anderes Weltbild, klar, und durch die Öffnung muss sich der Rest der Welt damit auseinandersetzen. Im Westen sollte man versuchen, nicht alles schwarzweiss zu sehen. China ist vielleicht nicht perfekt, aber auch nicht eine grosse Bedrohung. Es gilt, zu differenzieren.

Weltwoche: Viel zu reden gibt auch der Uno-Migrationspakt. Sie haben dieses Dokument erarbeitet, zusammen mit dem Mexikaner Juan José Gómez Camacho. Wie kam es dazu?

Lauber: Der Präsident der Generalversammlung suchte die Verhandlungsleiter aus. Er wählte einen Vertreter eines traditionellen Einwanderungslandes und einen Vertreter eines traditionellen Auswanderungslandes.

Weltwoche: Wie schreibt man ein Dokument, das 193 Staaten betreffen soll?

Lauber: Der Prozess dauerte zwei Jahre. Im ersten Jahr hörten wir nur zu und ermöglichten Gespräche. Es ging darum, Erfahrungen auszutauschen, Vorstellungen, Wünsche und No-Gos zu formulieren. Wir holten Akademiker, Leute aus der Privatwirtschaft und solche vor Ort ins Boot. Wir wollten wissen, was die Realitäten sind, anstatt die politischen Positionen aufeinanderprallen zu lassen. Das eigentliche Verhandeln dauerte dann noch ein halbes Jahr.

Weltwoche: Was sind die wichtigsten Punkte?

Lauber: Es geht darum, irreguläre Migration zu vermindern, indem man die Migration besser regelt. Wer reingelassen wird und wer nicht, entscheidet jedes Land selber. Dahinter steht die Idee: Reguläre Migration hat positive Effekte – wirtschaftlich, kulturell –, irreguläre Migration hat vor allem negative Effekte. Eines der Missverständnisse bestand darin, zu glauben, der Pakt hätte den Anspruch, in wenigen Jahren alle Probleme zu lösen. Der Migrationspakt ist aber nur ein erster Ansatz, um zusammen zu schauen, wie wir es besser machen können als im Jahr 2015.

Weltwoche: Ein paar Länder boykottieren den Pakt: die USA, aber auch andere Länder wie Polen, Ungarn, Österreich, Australien . . .

Lauber: Das stimmt nicht! Die Einzigen, die sich zurückzogen, waren die USA. Und das war nur, weil sie einen Regierungswechsel hatten. Die Übung startete 2016. Am Gipfeltreffen ging es um die Flüchtlingssituation in Europa nach 2015. Alle stimmten für eine bessere Zusammenarbeit in der Migrationspolitik, auch die USA mit Präsident Obama. Als es 2017 konkret wurde, wollten die USA nichts mehr davon wissen. Die übrigen Staaten blieben dabei.

Weltwoche: Was ist der Stand heute?

Lauber: Der Pakt wurde 2018 verabschiedet. Jetzt entfaltet er die Wirkung, die beabsichtigt war: Innerhalb der Uno wird besser zusammengearbeitet. Das läuft. Der zweite Punkt ist die Umsetzung auf nationaler Ebene. Da schaut jedes Land für sich, ob im Pakt etwas steht, das interessant ist. Wenn ja, setzt es die Formulierung in der eigenen Migrationspolitik um.

Weltwoche: Viel wurde über den rechtlichen Charakter des Pakts diskutiert. Ist er nun bindend oder nicht bindend?

Lauber: Er ist ganz klar nicht bindend. Der Migrationspakt ist ein Menü, es besteht kein Zwang, etwas zu übernehmen.

Weltwoche: Wenn der Pakt nicht verbindlich ist, wozu braucht es ihn dann?

Lauber: Was vor dem Migrationspakt fehlte, war ein Ort, an dem alle Länder zusammenkamen und sagten: «Okay, wir haben ein Phänomen, das grenzüberschreitend ist, und es geht in eine Richtung, die allen schadet. Es ist ein Problem, und wir wollen besser damit umgehen.» Das heisst, es geht ums Miteinander-Reden. Das ist das Ziel und der Vorteil dieser multilateralen Vorgehensweise.

Weltwoche: Das klingt nach viel Aufwand, nur damit man miteinander spricht.

Lauber: Der Pakt liefert eine Orientierung. Natürlich ist das nicht nichts, sonst hätten wir ihn nicht verhandelt. Eine Schweizer Delegation war dabei, die klar die Interessen der Schweiz vertrat. Wir haben einen Pakt, der wirklich der Schweizer Migrationspolitik entspricht.

Weltwoche: Was heisst das konkret?

Lauber: Themen wie sichere Grenzen, Verminderung der Ursachen von irregulärer Migration, Bekämpfung von Menschenhandel, Hilfe vor Ort, Rückkehr, Integration sowie Schutz der fundamentalen Menschenrechte – diese zentralen Elemente unserer Migrationspolitik sind in den Zielen des Paktes reflektiert. Wichtig ist auch der Grundsatz der Partnerschaft und der internationalen Zusammenarbeit. Kein Land kann die vielfältigen Herausforderungen im Alleingang angehen.

Weltwoche: War der Migrationspakt Ihr grösster Erfolg in dreissig Jahren Diplomatie?

Lauber: Ich bin ja noch nicht fertig. (Lacht) Ich glaube, etwas vom Wichtigsten, was ich mit meinen damaligen Mitarbeitern gemacht habe, war die erste Botschaft des Bundesrats zum internationalen Genf. Wir mussten ein bestehendes Dispositiv, die Gaststaatenpolitik der Schweiz, weiterentwickeln und uns dafür eine breite politische Abstützung erarbeiten. Eine riesige diplomatische Arbeit, die letztlich erfolgreich war.

Weltwoche: Welches war Ihre eindrücklichste Begegnung?

Lauber: Eine wirklich gute hatte ich vor Jahren hier im Gebäude der Mission in Genf, mit Kofi Annan. Er hatte sein Büro im siebten Stock. Ich kannte ihn nicht persönlich, aber er war Uno-Generalsekretär, als ich das erste Mal in New York arbeitete, wo ich von seiner starken Aura beeindruckt war. Und dann komme ich hier in den kleinen Lift, und, zack, steht er vor mir. Ich war perplex und sagte: «Herr Generalsekretär, ich war mal in New York . . .», und er machte sich mir mit einer unglaublichen Eleganz zugänglich. Er sagte: «Ja, ich erinnere mich», was natürlich Quatsch war. Aber ich fand das ganz grosse Klasse.

Weltwoche: Ein letzter Punkt: Wie sehen Sie die Schweiz?

Lauber: Ehrlich gesagt, es läuft schon gut hier. Je älter ich werde, desto öfter sage ich das. Das politische System ist einzigartig, wirklich fantastisch. Unsere Konsensdemokratie ist ein unschätzbarer Wert. Darauf müssen wir achtgeben.

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