«In Paris könnte die Revolution beginnen»

Noémie Schmidt, 28, aus Sitten ist in Frankreich ein Star. Sie spielt in der grössten TV-Produktion, die je in Europa gedreht wurde, und realisierte mit Freunden schon einmal einen eigenen Film. Ihre Kunst versteht sie politisch. Was hat sie als Nächstes vor?

Veröffentlicht in Die Weltwoche, 7. August 2019

Bild: zVg.

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Der Film «Wolkenbruch» über die wundersame Reise des orthodoxen Juden Motti in die Arme der schönen Schickse Laura liess den Stern der 28-jährigen Noémie Schmidt aus Sitten auch in der Schweiz aufgehen. Um ein Vielfaches bekannter ist Schmidt allerdings in Frankreich, wo sie seit fünf Jahren lebt. Ihre Rollen in der Netflix-Serie «Versailles», der teuersten je in Europa gedrehten TV-Serie, sowie im Netflix-Film «Paris est à nous» bescherten ihr Auftritte in grossen Talkshows, wo sie das Publikum mit ihrer elfenhaft-eleganten, natürlich-dezenten Art für sich einnahm.

Schmidt wartet an einem frühen Sommernachmittag in einem Hipster-Lokal nahe der Place de la Nation in Paris. Sie ist ungeschminkt zum Treffen gekommen, fällt aber trotzdem auf mit ihren leuchtend grünen Hot Pants, dem knallgelben Tennis-Shirt, den weissen Sneakers und den gelb-blau-gemusterten Socken. Um ihren Hals hängt eine Sonnenbrille, und zwischen ihre Knie hat sie einen schwarzen Lederrucksack geklemmt, der, was ihr erst beim Öffnen auffällt, innen mit Kebab-Sauce verschmiert ist.

«Iiih.» Schmidt verzieht das Gesicht. «Ah ja.» Sie erinnert sich. Ihr Freund habe in der Nacht, um fünf Uhr morgens, den MitternachtsSnack für die Taxifahrt verstauen müssen. Sie spricht lebhaft, trotz wenig Schlaf, jedoch nur, wenn ihr das Thema passt. Make-up zum Beispiel, in der Schauspielerei ein grosses Thema, interessiert sie nicht. Trotzdem kramt Schmidt in ihrem Rucksack, bis sie ein Döschen findet. «Ich habe noch Glitzer von der Gay Pride.» Sie tupft sich einen bordeauxroten Schimmer an die Schläfe. «Solche Schminke ist cool.» Ob ich das auch möge, fragt sie, als sie mich bereits mit ihrem Zeigefinger verziert.

Frau Schmidt, danke, dass wir jetzt beide glitzern. Sie leuchten dabei unvergleichbar stärker, gelten in Frankreich als Star und gewannen mit dem Film «Wolkenbruch» die Herzen der Kinobesucher in der Schweiz. Woher kommt dieser Erfolg?

Erfolg? Der ist mir egal. Ich bin dankbar, ja. Aber Erfolg, wie Sie das nennen, bedeutet mir nichts. Ich hätte nicht mal gedacht, dass ich Schauspielerin werden würde. Theater war einfach meine Leidenschaft, ich liebe es.

Was lieben Sie daran?

Geschichten zu erzählen, ein Leben vorzutäuschen oder eine neue Welt zu erfinden. Ich mag aber auch die Herausforderungen des Showbusiness.

Was war Ihre grösste Herausforderung bisher?

Nein sagen zu können.

Und, klappt’s?

Jetzt schon. Früher hatte ich manchmal das Gefühl, dass ich ja sage, ohne mir Gedanken zu machen und ohne mich selbst zu respektieren. Zudem gab es Menschen, die mich nicht richtig behandelten – Regisseure, die mich baten, Dinge zu tun, die ich nicht wollte. Sie missbrauchten ihre Macht, drohten mir. Ich liess mir das gefallen, weil ich geliebt werden wollte.

Sind das die Probleme einer jungen Frau im Showgeschäft?

Absolut, es ist wirklich, wirklich schwierig.

Wer waren früher Ihre Vorbilder? Welcher Film begeisterte Sie?

Der Film «Hair» hat mich umgehauen. George Berger, die Hauptfigur, ist ein Hippie, unglaublich provokant. Das Anderssein faszinierte mich, die Marginalisierung.

Ich habe Sie mir aufgrund von Fernsehinterviews und Ihren Rollen als Everybody’s Darling vorgestellt.

Also jemand, der allen gefällt? Sieh mich an. (Zeigt auf ihr Outfit, lacht.) Wie jemand aussieht, heisst gar nichts. Mit Glamour und roten Teppichen habe ich nicht viel am Hut und ich gehe vielleicht zweimal im Jahr an Galaveranstaltungen. Ich nutze lieber meine Stimme als Schauspielerin. Mich interessiert nicht das Bild, das man sieht, sondern was dahintersteckt. Mich auszudrücken, davon träumte ich schon als Kind. Mein Glück ist, dass mein Leben meine Arbeit ist und umgekehrt. Für mich ist beides dasselbe. Genau das wollte ich, von interessanten Menschen umgeben sein, in Paris leben – ich liebe Paris.

Unweit von hier, bei der Place de la Nation, sah ich gilets jaunes demonstrieren. Als ich beim Gare du Nord ankam, bettelten Obdachlose und Migranten. Kann es sein, dass Sie ein Paris lieben, das seine Romantik verloren hat?

Ich habe nie ein romantisches Paris erlebt. Mein Paris ist wild, wie eine grosse Demonstration. Toll, passiert es. In Paris könnte die Revolution beginnen.

Warum toll?

Wir leben in einer Welt, die grundsätzlich für alle gleich ist. Aber solange Menschen wegen ihrer Rasse oder ihres Geschlechts gefoltert, misshandelt, geschlagen oder vergewaltigt werden, werde ich nicht zur Ruhe kommen. Das zeigt sich auch in meiner Kunst, zum Beispiel beim Netflix-Film «Paris est à nous», den ich mit meinen Freunden hier in Paris für nur etwa viertausend Franken gedreht habe. Wir wollten zeigen, dass es möglich ist, auch ohne das grosse Geld. Du brauchst Mut, Stärke, eine Vision und viel Leidenschaft. Leute, die den Film gesehen haben, dankten uns dafür.

Was hat Sie derart politisiert?

So denke ich schon, seit ich mich erinnern kann. Ich war immer an Gesellschaftsfragen interessiert, dem Zusammenleben.

Ein Teil Ihrer Erziehung?

Nicht wirklich. Meine Eltern haben mir zwar viel erklärt, mich aber immer selber denken lassen und mir voll vertraut. Ich durfte schon mit etwa zwölf in Sitten um die Häuser ziehen. Wir gingen tanzen, haben geraucht und getrunken – Wodka und Gin und Tonic.

Wann mussten Sie zu Hause sein?

(Lacht) Das weiss ich nicht mehr. Ich war aber immer pünktlich, bin dann aber gleich wieder rausgeschlichen. Solche Regeln habe ich nie respektiert.

In Brüssel haben Sie dann an der Theaterschule studiert. Eine Fortsetzung der wilden Teenagerjahre?

O ja. Ich lebte in einem riesigen Haus mit vielen Bewohnern. Ich entdeckte das Theater auf einer anderen Ebene, drehte meinen ersten Film und habe nebenbei in der Oper gearbeitet. Ich habe Kinder in Gesang unterrichtet.

Hätten Sie sich vorstellen können, Lehrerin zu werden?

Ja. Aber mich interessierte so viel, ich hätte irgendetwas werden können – nur nicht Metzgerin. Das wäre zu deprimierend, immer die toten Tiere.

Deprimiert Sie der Tod?

Nicht per se. Ich überlege mir schon länger, was der Sinn des Lebens ist. Wenn aber irgendwann alles endet, ergibt es für mich keinen Sinn. Das ist absurd und sinnlos – das Kinderkriegen, Schauspiel, Schreiben. Ganz egal, was du machst, es wird sich an der Welt nie etwas ändern.

Sind Sie eine Pessimistin?

Überhaupt nicht, ich bin sogar sehr optimistisch. Aber sind wir nicht alle ein kleines Stück Staub im Universum? Das kann man nicht ändern. Wir sind nichts. Für mich ergibt das Hier und Jetzt Sinn, und darum bin ich verrückt nach dem Leben.

Wenn Sie etwas ändern könnten, was wäre das?

Die Steuergesetze, die würde ich ändern – ja. Die, die keine Steuern zahlen, würde ich ins Gefängnis stecken. (Lacht hämisch) For real! Sie entkommen immer, sind die Reichsten und nutzen alles aus: Afrika, Indien, die ganze Gesellschaft.

Zu «Wolkenbruch»: In einem Interview, so heisst es, reagierten Sie nicht begeistert, als Sie auf den Film angesprochen wurden. War dieser ein Flop für Sie?

Nein, gar nicht. Ich habe diesen Film sehr gerne gemacht. Ich liebte Zürich und Joel Basman, den Hauptdarsteller. Er ist so cool. Auch die Botschaft, dass du sein kannst, wer und was immer du willst, ist wunderschön. Dass du niemanden heiraten sollst, den dir deine Eltern aussuchen, und selber denken sollst.

Sie wollten also das starre jüdische Eheprozedere aufbrechen?

Es geht nicht um Juden. Die Message ist viel allgemeiner. Wenn du etwas tun willst, lass nicht zu, dass dir andere im Weg stehen. Und vor allem, wenn es um Liebe geht. Jeder sollte lieben dürfen, wen immer er oder sie will.

Was machen Sie, wenn Sie keine Filme drehen?

Jetzt drehe ich gerade keinen Film. Wann wieder einer kommt, weiss ich noch nicht. Ich spiele gerne Tennis mit meinen Mitbewohnern. Ich liebe es, zu tanzen, ich tanze fast jeden zweiten Tag. Rock ’n’ Roll oder zu elektronischer Musik. Ich mag Festivals, das Paléo in Nyon ist mein liebstes. Und Lesen.

Was lesen Sie?

«Americanah» von Chimamanda Ngozi Adichie. Es handelt von einer Frau aus Nigeria, die zum Studieren in die USA geht. Dort merkt sie, dass sie schwarz ist, und spürt die rassistische Stigmatisierung. Das Krasse ist, dass sie beides ertragen muss: schwarz und eine Frau zu sein.

Glauben Sie, dass Frauen leiden, weil sie Frauen sind?

Ja. Wie aber auch Männer darunter leiden, Männer zu sein, wenn ihnen gesagt wird, wie ein Mann zu sein hat. Daher glaube ich nicht an Geschlechter und sehe uns alle als Menschen.

Erleben Sie diese Pauschalisierung?

Wenn ich auf meine Rolle in «Versailles» angesprochen werde, geht es immer um die spektakulären, antiken Kleider. Der Darsteller von König Louis XIV wird dann immer gefragt: «Wie war es, den König zu spielen?» Er kann also Auskunft über die Figur geben. Das ist doch komisch, dass sie mich nie etwas über das Wesen meiner Figur gefragt haben – auch wenn es mir nichts ausmacht, ständig über das Kleid zu sprechen.

Wie sieht Ihre Zukunft aus? Gibt es bald einen Blockbuster mit Ihnen?

Wenn das klappt, sicher. Aber das hängt von den Menschen ab, die mich fragen. Ich habe keine Ahnung, wohin mein Herz mich trägt. Ich lebe Tag für Tag, oder ich versuche es zumindest. Ich will glücklich sein, und ich mag es, wenn ich Leute dadurch ebenfalls glücklich machen kann.

Sind Sie glücklich?

Ja, das bin ich.

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