Aus allen Lagen, in höchstem Tempo

Der Walliser Nico Hischier, 20, galt als weltbester Junioren-Eishockeyspieler. Inzwischen misst er sich mit den grössten Stars seines Sports. Abgehoben wirkt er trotzdem nicht.

Veröffentlicht in Die Weltwoche, 24. Juli 2019

Der Kommentator sprach von einem historischen Moment. Die Nummer dreizehn der Schweizer Eishockey-Nationalmannschaft zog sechs Minuten vor Spielende dynamisch am französischen Verteidiger vorbei und kam von rechts vors gegnerische Tor. Mühelos schloss er ab. Lässig lupfte er den Puck mit der Vorhand über den rechten Arm des Goalies. Drei zu null. Der Stadionsprecher verkündete den Torschützen: Niiicoo Hischier! Die Halle in Siders tobte. Es war die Länderspielpremiere des Lokalmatadors, des Natischer Büeb, der rund zwanzig Fahrminuten vom Stadion entfernt aufgewachsen ist. Wenig später schoss Hischier zwei weitere Tore, am Ende gewann die Schweiz mit sechs zu null.

Wayne Gretzky, die kanadische Legende, der grösste Eishockeyspieler der Geschichte, sagte einmal: «Unsere Kinder wollen sein wie Nico.» Experten auf der ganzen Welt schwärmen von Hischiers dynamischer Spielweise, seiner Spielintelligenz, seinem 360-Grad-Sensorium. Er kann Mitspieler aus unmöglichsten Lagen und in höchstem Tempo pfannenfertig bedienen. Ein Lenker und Denker, offensiv wie defensiv, den die Sonntagspresse bereits zum «Federer des Eishockeys» kürte, als er gerade einmal achtzehn Jahre alt war. Damals galt Hischier als weltbester Juniorenspieler. Inzwischen ist er zwanzig und hat sich in der NHL, der stärksten Liga der Welt, durchgesetzt.

Freiraum neben der Schule

Seit seinem Nationalmannschafts-Debüt sind drei Monate vergangen. Hischier bereitet sich in Bern auf die neue Saison vor. Wir haben ein telefonisches Gespräch abgemacht, aber Hischier ruft vor der verabredeten Zeit an. Er trainiere im Sommer oft spontan, je nach Wetter, sagt er. Ob es in Ordnung sei, das Interview jetzt schon zu machen? Er wolle nachher noch raus. Hischier gibt sich unkompliziert. Er redet in verständlichem Walliser Dialekt und bietet sogleich das Du an. Dass sein Nachname oft falsch ausgesprochen wird – «Hischié», mit französischem é –, stört ihn nicht. Er sei es gewohnt, dass das r vergessen gehe, und habe schon alle möglichen Verfremdungen gehört. Hischier spricht seinen Namen auf Englisch aus und lacht. Seine Mitspieler würden ihn «Hisch» oder Nico nennen.

Aufgewachsen ist Hischier im Oberwallis. Die Primarschule besuchte er in Naters, die Oberstufe in Visp. Früh schon drehte sich seine Freizeit um Sport: Eishockey, Fussball, Slackline, Skateboard, Schwimmen. «Ich habe viel gemacht, ja», sagt Hischier. Trotzdem habe er sich in der Schule konzentrieren können. Probleme mit den Noten habe er nie gehabt, was ihm wohl bei Eltern und Lehrern den nötigen Freiraum verschaffte, um ab und zu für ein Turnier in der Schule zu fehlen. Besonders gut war er im Rechnen. Seine liebsten Fächer waren Englisch, Französisch und – wenig überraschend – Sport.

Teenager unter Männern

Aussergewöhnlich gut war er im Hockey, was sich schon im Alter von elf oder zwölf Jahren in der Kategorie «Moskitos» zeigte. Damals lief Nico mit seinem vier Jahre älteren Bruder Luca und dessen Team für den EHC Visp auf. In einem Interview sagte Luca Hischier einmal, er habe immer gewusst, dass Nico ein Grosser werde. Hat sich die Karriere abgezeichnet? «Ich habe mir damals nicht überlegt, dass das etwas werden könnte, nur weil ich mit Älteren spielte», sagt Nico Hischier. «Ich hatte einfach Freude am Hockey.»

In welchem Alter er sich entschied, voll auf die Karte Eishockey zu setzen, weiss er nur noch vage. «Vielleicht doch während der MoskitosJahre.» Wahrscheinlich sei es eine Mischung aus Ziel, Wunsch und Traum gewesen. Die Perspektive, eines Tages Eishockey-Profi zu sein, habe ihn allerdings stets motiviert. Unterstützt wurde er von seinen Eltern, den älteren Geschwistern Nina und Luca, die ihn aber nie gepusht hätten.

Dass er das Zeug zum Profi hatte, zeigte sich spätestens bei seinem ersten «Männerspiel». Im zarten Alter von fünfzehn Jahren bestritt Hischier in der damaligen Nationalliga B, der heutigen Swiss League, seinen ersten Match für den EHC Visp. «Mit meinem Bruder zusammen beim Heimklub», wie er sich erinnert. «Das war schon etwas sehr Cooles, wenn du so die Karriere starten kannst.»

Es war die Initialzündung, denn noch im selben Jahr lockte ihn der SC Bern (SCB) in die Junioren-Abteilung. «Das war der wichtigste, aber auch der schwerste Schritt», sagt Hischier. «Ich war zum ersten Mal von zu Hause weg. Ich kannte niemanden vom Team. Zum Glück konnte ich bei meiner Tante wohnen.» Auf dem Eis habe er sich in einem neuen Umfeld beweisen müssen, vor neuen Mitspielern, einem neuen Trainer, neuen Gegnern.

Er war ein Teenager und hatte Heimweh, fand jedoch schnell Anschluss. Noch heute trifft er seine Kollegen aus der damaligen Zeit, wenn er, wie jetzt gerade, in Bern ist. Geblieben sind aber nicht nur Kontakte, sondern auch Erinnerungen. Ein Jahr später spielte Hischier das erste Mal in der höchsten Schweizer Liga. «Wenn man die Fans, diese Wand in der Berner Arena, sieht – das ist schon recht eindrücklich.» Fünfzehn Partien spielte Hischier für den SCB. In spezieller Erinnerung hat er sein erstes Tor gegen Ambrì. Marco Müller spielte ihn an, und Hischier musste nur noch die Schaufel hinhalten, um das leere Tor zu treffen. «Ein toller Moment», sagt Hischier.

Harte Arbeit, etwas Glück

Der nächste Wechsel folgte, diesmal nach Kanada in die Juniorenliga, zu den Mooseheads nach Halifax, ganz im Osten des Landes. Dass er, damals siebzehn, nicht wieder an Heimweh gelitten habe, verdanke er seiner Gastfamilie, seinem «grossen Glück», wie er sagt. Wenn er auf seine bisherige Karriere zurückblickt, nennt er zwei Gründe für seinen Erfolg: harte Arbeit – und eben Glück. «Sonst geht es nicht.» Hischier hatte in Kanada alles, was das Herz begehrt. Eine Fernsehreportage zeigte ihn im gediegenen Esszimmer und im Untergeschoss beim Training. Auf einem kleinen nachgebildeten Hockeyfeld konnte er mit harten Pucks auf eine Torwand schiessen und an seiner Technik arbeiten.

Bei den Mooseheads schlug Hischier gleich ein. Mit 86 Scorer-Punkten – davon 38 Tore und 48 Vorlagen –, wurde er zum «Rookie of the Year», zum besten Neuling Kanadas, gewählt. «Das Jahr war super», sagt er. Gewöhnungsbedürftig sei die Aufmerksamkeit gewesen, die er im hockeybegeisterten Land erfahren habe. «Man wird angesprochen, trotz Juniorenstatus. Und zu Auswärtsspielen mussten wir in Anzug und Krawatte, wie NHL-Profis.» Seine Mitspieler und er, sagt Hischier, seien im Trainingsanzug in den Car ein- und «geschalt» wieder ausgestiegen. Er schmunzelt. «Zehn Minuten vor dem Stadion hast du dich umgezogen.»

Auch den Schweizer Nationaldress streifte er sich in der ersten Saison in Kanada über. Ende 2016, mit fast achtzehn, spielte er eine herausragende U-20-Weltmeisterschaft in Kanada und begeisterte die NHL-Scouts. Beim Viertelfinalspiel gegen die USA, einem seiner besten Auftritte bisher, schoss er zwei Tore und wurde, obschon die Schweiz mit zwei zu drei verlor, zum «Man of the Match» gewählt. Im Sommer 2017 kursierte sein Name dann weit oben auf der Liste des NHL Entry Drafts, des Sprungbretts für die weltbeste Eishockey-Liga. Dass er von den New Jersey Devils tatsächlich als Erster gewählt wurde, habe er vorgängig nicht gewusst. Er sei überwältigt gewesen. Zu Recht, denn er schrieb damit Schweizer Sportgeschichte. Nico Hischier reihte sein Walliser Geschlecht in die klangvolle Namensliste der Erstrunden-Picks ein. Sie umfasst Namen wie Alexander Owetschkin, Sidney Crosby oder Taylor Hall.

Letztgenannter, Flügelstürmer Hall, spielt heute sogar mit Hischier zusammen. Das sei extrem hilfreich für ihn, da Hall sich einst in der gleichen Situation wie er befunden habe und ihm Tipps geben könne. So ermutigte ihn Hall nach den ersten sechs Spielen ohne Torerfolg, dass er einfach weitermachen solle. «Ich spielte gut, hat er gesagt. Ihm sei es in den sechs ersten NHL-Matches gleich gegangen», sagt Hischier. «Im siebten Spiel hat es dann geklappt, wie bei Hall damals – nur, ich traf sogar zweimal.»

Beförderung in der Kabine

Nach dem Ende seiner Torflaute sollte Hischier noch 19 weitere Tore für die Devils schiessen und 32 Assists verbuchen. Hinter seinem Mentor Hall wurde er zweitbester Scorer des Teams und begeisterte auch Wayne Gretzky: «Es macht Spass und ist aufregend, ihm zuzuschauen. Wegen solcher Spieler lieben wir das Eishockey.» Dass Hischier sein Nachfolger werde, schloss der Altstar nicht aus. Er hoffe es sogar, sagte er. Wenn ihm solche Sätze vorgetragen werden, muss Nico Hischier verlegen lachen. «Sehr schmeichelhaft», sagt er. «Das macht einen schon stolz.»

Sein persönliches Ziel sei es aber nicht, der neue Gretzky zu werden, sagt Hischier. Er sei noch jung, und ihm sei es vor allem wichtig, sich weiter zu verbessern. Sein Motto laute: «Nimm es so, wie es kommt.» Er wolle Erfolg haben und – wie er in fast jedem Interview betont – «dem Team helfen», auch von der Bank aus, wenn das von ihm verlangt würde.

Bislang aber forderten die Coaches sein Können auf dem Eis. Auch in seiner zweiten NHL-Saison konnte Hischier spielerisch überzeugen, obschon das Team die Play-offs nicht erreichte. «Ich bin weder zufrieden noch enttäuscht», kommentierte er seine Leistung nach dem Ausscheiden säuerlich. Seine Trainer scheinen trotzdem zufrieden mit ihm zu sein, sonst wäre er kaum mit dem «A» – für alternate captain – gegen die Montréal Canadiens aufgelaufen. «Da wurde ich ins kalte Wasser geschmissen», sagt Hischier. «Ich war gar nicht vorbereitet.» Als er in die Garderobe kam, habe er sein Leibchen gesehen – mit einem angenähten A. Die Beförderung sei eine Ehre gewesen. «Obwohl», relativiert er, «es waren ja einfach beide alternate captains verletzt.» Auf dem Eis habe er dann auch nicht gross anders gespielt als sonst. «Ich hatte keine Allüren oder so.»

«Dass sie mich hier nicht speziell behandeln werden, hat mir der Trainer in New Jersey sogleich nach dem Draft gesagt», erzählt Hischier. «Das finde ich gut.» Klar werde er in der ruppigen Liga als junger Spieler, vom Körperbau etwas filigraner und weniger kräftig, von den Routiniers beschützt. «Das ist aber normal.» Checks und trash talk – «Du kannst es nicht» oder «Du bist ein Versager» – müsse er einstecken. Das lasse ihn aber kalt. Auch wenn er mit NHL-Superstars wie Sidney Crosby am Bully stehe, gehe ihm nicht viel durch den Kopf. Er konzentriere sich einfach. Erst wenn er den Fernseher einschalte, realisiere er, mit wem er wieder face to face die Stöcke gekreuzt habe.

Überträgt sich der Glamour der NHL-Welt auf seinen Alltag? Bekommt er massenhaft Zuschriften? Vergöttern ihn die weiblichen Fans und bombardieren ihn mit Freizügigkeiten? Nico Hischier kann sich das Lachen nicht verkneifen. Nacktbilder? «Habe ich noch nie bekommen», sagt er. Und auch sonst sei er eigentlich wie jeder andere Zwanzigjährige und mache in der Freizeit, was man halt so mache: Im Sommer gehe er mit Kollegen baden. Und im Winter, in Amerika, verbringe er seine Freizeit meistens mit seinen Teamkollegen, gehe ab und zu nach New York oder game «Fortnite» oder «Fifa».

Unterwegs ohne Freundin

Fürs Skifahren bleibe keine Zeit, weil er erst im April oder Mai in die Schweiz zurückkehre und im August bereits wieder abreise. Übermässig einschränken lasse er sich aber nicht. «Zum Mountainbiken sage ich nicht nein.» Trotz Risiko fände er es blöd, nichts ausser Hockey zu tun. So gehe er auch aus, zum Essen mit Freunden, in Bars oder Klubs. Eine Freundin habe er nicht. Er wolle auch niemanden kennenlernen, nur weil er ein NHL-Eishockey-Profi sei. Ob es Leute gebe, die ihm mit Dollarzeichen in den Augen gegenübertreten. «Ja, klar», sagt Hischier, «aber es gibt auch andere, die den Nico sehen.»

Hischier ist mit seinen zwanzig Jahren im Umgang mit Journalisten abgeklärt, als hätte er ein jahrelanges Medientraining durchlaufen. «Nein, nein. Das habe ich nie gehabt», sagt er. Bei Interviews sei für ihn die Devise immer gewesen, sich so zu geben, wie er ist. Der immense Druck, der ihm als Eishockey-Hoffnungsträger auf den Schultern lastet, scheint ihm keine Probleme zu bereiten. Er versuche, diese Faktoren auszublenden, sagt Hischier. Was er denn sonst machen solle? Ihm sei ja bewusst, dass er damit sein ganzes Leben lang konfrontiert sein werde und damit umgehen müsse. «Das hat jeder Sportler.»

Man erwartet viel von Hischier, in New Jersey und in der Schweiz, und seine eigenen Ziele stehen diesen Erwartungen in nichts nach: «Ich will den Stanley Cup [den Meisterpokal der NHL, die Red.] mit den Devils gewinnen und die Goldmedaille an Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften mit der Schweiz. Ganz einfach.» Wie kann er da noch am Boden bleiben? «Dank den Eltern, meinen Wurzeln, und vielleicht der Walliser Gelassenheit», sagt Hischier.

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