«Ich habe die Grenzen ausgelotet»

Nach Jahren in der Regierung wurde Pierre Maudet abgewählt. Im persönlichen Interview blickt er auf seine bewegte Politkarriere zurück.

Veröffentlicht in Die Weltwoche, 29. April 2021.

Pierre Maudets Leben begleiten Superlative: Vom «Wunderkind von Genf» war die Rede, dem jüngsten Stadtpräsident Genfs und jüngsten Regierungsrat der Kantonsgeschichte. 2017 wollte die «Galionsfigur der Genfer FDP» Bundesrat werden. Er unterlag respektabel seinem Gegenkandidaten Ignazio Cassis.

2018 drehte die Grosswetterlage: Die «Affäre Maudet» sorgte schweizweit für Schlagzeilen. Der Regierungsvertreter reiste 2015 mit seiner Familie nach Abu Dhabi, wo er im Fünf-Sterne-Hotel nächtigte und den Formel-1-Grand-Prix besuchte. Der Prinz des Golfstaates finanzierte diesen Wochenendtrip. Kostenpunkt: rund 50 000 Franken. Dafür wurde Pierre Maudet im November der Vorteilsnahme schuldig gesprochen. Im Oktober wird sich die zweite Instanz mit seinem Fall befassen.

Schlimmer war der politische Schuldspruch: Weil er die Staatsanwaltschaft, die Medien, Regierungskollegen und seine Partei anlog, ging er durchs öffentliche Fegefeuer. Seine Partei, die FDP, schloss ihn aus. FDP-Präsidentin Petra Gössi forderte seinen Rücktritt. Derweil klammerte sich Maudet an sein Amt. Erst eine Verwaltungsintrige bewog ihn zum Rücktritt. Für seine Ersatzwahl kandidierte er umgehend. Die Wiederwahl verpasste er Ende März, weshalb ab Mai eine linke Mehrheit den Kanton Genf regieren wird.

Nach vierzehn turbulenten Jahren zieht er Bilanz. Entspannt sitzt er auf einer Terrasse in Genf. Er habe nicht endlos Zeit, sagt er. Danach müsse er in den Chinesischunterricht. 

Weltwoche: Herr Maudet, Sie waren vierzehn Jahre lang Regierungsmitglied. Wie lautet Ihr Vermächtnis?

Pierre Maudet: Dafür ist es noch zu früh. Vielleicht ist die Geschichte noch nicht fertiggeschrieben.

Weltwoche: Was war Ihr Highlight?

Maudet: Es gibt viele. Dazu gehört sicher die Reform des Polizeigesetzes, das Stadtpräsidium 2011 und der Besuch des Papstes vor drei Jahren.

Weltwoche: Was werden Sie am meisten vermissen?

Maudet: Mein Motto war immer: Du musst jeden Tag ein konkretes Problem lösen, etwas, was für die Bevölkerung seh- und spürbar ist. Daran hatte ich Spass, ich war leidenschaftlich gerne Exekutivpolitiker.

Weltwoche: Was wird Ihnen nicht fehlen?

Maudet: Muss ich ehrlich sein?

Weltwoche: Entscheiden Sie.

Maudet: (Lacht) Die Leerläufe, die Ineffizienz, die Zeitverschwendung – auch im Parlament. Es war nicht nur die Bürokratie in der Verwaltung, die mich störte. Mir ging alles zu langsam.

Weltwoche: Was war die schwierigste Situation, die Sie durchlebten?

Maudet: Der Fall Adeline.

Weltwoche: Eine Therapeutin, die 2013 von einem Sexualstraftäter getötet wurde, als er auf dem Freigang war.

Maudet: Das war das Schlimmste, was ich je erlebte. Der Mann hätte niemals die Möglichkeit haben sollen, überhaupt aus dem Gefängnis gehen zu können. Trotzdem wurde sein Gesuch bewilligt. Ich als Chef unterzeichnete dann zwei Jahre lang jede Urlaubsbewilligung. Ich musste mir jedes Dossier anschauen.

Weltwoche: 2015 wurden Sie an den Formel-1-Grand-Prix von Abu Dhabi eingeladen. 2018 wurde die «Affäre Maudet» losgetreten. Wie denken Sie rückblickend darüber?

Maudet: Grundsätzlich habe ich damals meinen Job gemacht: Standortförderung von Genf. Dass ich die Reise antrat, war vielleicht etwas ungeschickt. Dass ich etwas Strafrechtswidriges getan haben soll, bestreite ich nach wie vor.

Weltwoche: Sie wurden wegen Vorteilsnahme verurteilt.

Maudet: Im Oktober wird mich die zweite Instanz hoffentlich freisprechen.

Weltwoche: Was war das Motiv für diese Reise?

Maudet: Genf war für Leute aus Nahost immer wichtig, unsere Stadt ist wie eine Drehscheibe. 2010, 2011 und 2012 hatten wir dann riesige Sicherheitsprobleme, und diese Leute kamen nicht mehr nach Genf. Das war für den Tourismus ein wirtschaftliches Problem. Also suchte ich als Sicherheits- und Wirtschaftsminister den Kontakt zu den Golfstaaten. Das war wichtig. Das war mein Ziel und nur das. Dass weder der Staat noch ich diese Reise bezahlen musste, ist gegenüber dem Steuerzahler korrekt. Ich habe mich in keiner Art und Weise bereichert.

Weltwoche: Warum musste unbedingt Ihre Familie mit?

Maudet: 2015 war ein schwieriges Jahr. Im März hatte ich die harte Abstimmung über das neue Polizeigesetz. Ich gewann hauchdünn, mit nur 54 Stimmen Unterschied bei 120 000 Stimmeingaben. Die Polizeigewerkschaft griff mich permanent an. Ich war ständig auf Trab, nie zu Hause. Dann ergab sich diese Reise, im November. Und ich hatte die Möglichkeit, meine Familie mitzunehmen. Also nahm ich sie mit – ich entschied, ohne gross zu überlegen.

Weltwoche: Gibt es etwas Positives, was Sie von diesem Wochenendtrip mitgenommen haben?

Maudet: Dass die Reise stattfand, war positiv. Sowieso! Dieses Formel-1-Rennen war wie ein Turnier im Mittelalter: Abu Dhabi stand im Schaufenster – ideal, um Kontakte zu knüpfen. Es war ein bisschen wie am Filmfestival in Locarno.

Weltwoche: Wie erholsam waren die Badeferien für Ihre Familie?

Maudet: Eigentlich war es für meine Frau und meine Kinder keine Erholung, eher Stress. Ich hatte leider auch kaum Zeit für sie, sie sahen mich kaum. Und meine Kinder waren eigentlich zu klein, um das Erlebte zu verstehen. Sie waren vier, sechs und acht.

Weltwoche: Als Politiker wurden Sie mit Superlativen eingedeckt. Wie konnten gerade Sie sich in ein Lügengewebe verheddern?

Maudet: Ich bin nicht perfekt, niemand ist es. Eigentlich wollte ich meine Familie schützen, das Gegenteil passierte. Ich dachte erst, diese Reise sei ein Problem wie jedes andere, das ich mühelos wegwischen könnte, und schon war ich auf der falschen Schiene. Aber ein Lügengewebe? Das finde ich übertrieben. Es war ein und dieselbe Lüge, die ich überall erzählte, wenn ich gefragt wurde.

Weltwoche: Haben Sie die öffentlichen Reaktionen darauf unterschätzt?

Maudet: Ich habe die Wirkung von Politikern unterschätzt. Denn, wenn wir ehrlich sind: Dass Politiker die Realität beschönigen – man kann es lügen nennen –, gehört leider zum Spiel. Das sind meist politisch relevante Lügen, was bei mir nicht der Fall war. Vermutlich habe ich zu arrogant und zu hart politisiert. Dann kam die Retourkutsche: Meine Gegner wollten mich demütigen, die meisten anonym, voller Neid und mit viel Hass. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Weltwoche: Gegen Sie waren alle: Medien, Regierungskollegen, die eigene Partei. Dachten Sie jemals ans Aufgeben?

Maudet: Aufgeben ist nicht meine Art. Es war aber nicht immer einfach, um ehrlich zu sein. Ich sagte mir immer: Ich bleibe standhaft! – denn ich betone ja heute noch, dass ich unschuldig bin. Nach wie vor gilt die Unschuldsvermutung. Weder die Medien noch die sozialen Netze und schon gar nicht meine Regierungskollegen entscheiden über mich, sondern das Volk. Daher werde ich mich weiter wehren.

Weltwoche: Was gibt Ihnen die Kraft, nicht das Handtuch zu werfen?

Maudet: Grundsätzlich mein Glaube, dass ich unschuldig bin. Meine Frau und meine Freunde unterstützen mich. Und viele Genfer wissen, dass ich zwar nicht unfehlbar bin, diese Affäre aber total übertrieben ist. Sogar aus dem linken Lager bekam ich viel Zuspruch. Man weiss, man braucht mich, um Genf weiterzubringen.

Weltwoche: Wie sind die Reaktionen, wenn Sie durch Genf laufen?

Maudet: Ich habe mich nie unsicher gefühlt.

Weltwoche: Was erlebte Ihre Familie? Sie wohnen mitten in der Stadt.

Maudet: Für meine Frau war es zum Glück nicht so schlimm, und für meine Kinder ging es gerade noch. Sie waren es sich gewohnt, unseren Namen auf Plakaten und in Zeitungen zu lesen. Ich musste ihnen gegenüber transparent sein, sie waren schliesslich auch in Abu Dhabi. Sie wollten wissen, ob ich etwas falsch gemacht habe. Ich musste mich erklären.

Weltwoche: Während Ihrer Affäre hielten Sie sich im Amt. Erst die Verwaltung konnte Sie stürzen. Im November verkündeten Sie den Rücktritt. Mitarbeiter klagten, Sie hätten viele überlastet. Können Sie das erklären?

Maudet: Die Anschuldigungen aus der Personalabteilung waren gesteuert und meiner Meinung nach übertrieben. Einige Kollegen haben nachträglich alles zurückgezogen. Sicher war ich meinen Angestellten gegenüber fordernd. Hinzu kam die wirtschaftlich problematische Lage wegen Covid-19. Aber dieses Beispiel zeigt mir einmal mehr, dass die Macht der Verwaltung zunimmt. Wenn sich Beamte zusammenschliessen, können sie einen Regierungsrat, der ihnen nicht passt, stürzen. Genf ist nicht das einzige Beispiel; auch in Bern steigt der Druck innerhalb der Verwaltung. Die Politik gewährt diesem Treiben viel zu viel Platz.

Weltwoche: Wie radikal führen Sie? Was sind Ihre Prinzipien?

Maudet: Mir geht es um Kommunikation, Logistik, Vorbereitung. Ich lese mich gerne in meine Dossiers ein und erkläre, was zu tun ist, was das Volk will. Das erwarte ich auch von meinen Mitarbeitern, ich gehe aber als Beispiel voran.

Weltwoche: Sie kandidierten umgehend für die Ersatzwahl. Gewählt wurde eine Grüne. Was überwog: der Ärger, dass eine linke Mehrheit Genf regiert, oder die Genugtuung, dass Sie mit Ihrem Ergebnis Ihre alte Partei, die FDP, geschlagen haben?

Maudet: Mich enttäuscht, dass die CVP und die FDP mit dem Ziel angetreten sind, Pierre Maudet zu verhindern. Politik gegen jemanden geht nicht, das merkten die Leute.

Weltwoche: Wie analysieren Sie den Formstand der FDP? Ganz allgemein.

Maudet: Sie hat ein Verantwortungsproblem. Alles klingt schön, mehr nicht. Ich sehe bei ihr keine Organisation, keine Strategie, kein Ziel. Das wird die FDP viele Stimmen kosten und vermutlich auch den zweiten Bundesratssitz.

Weltwoche: Wie weit haben Sie sich gedanklich von Ihrer Ex-Partei entfernt?

Maudet: Ich habe mehr das Gefühl, sie hat sich von ihren Werten entfernt.

Weltwoche: Wie lautet Ihre Kernbotschaft?

Maudet: Freiheiten und soziale Gerechtigkeit – wie der Slogan in meinem Wahlkampf.

Weltwoche: Damit waren Sie beinahe erfolgreich. Warum hielten so viele Genfer zu Ihnen – trotz allem, was vorgefallen war?

Maudet: In der Calvinstadt leben Bürger mit klarem Verstand. Sie können Recht von Unrecht unterscheiden. Ich habe das Gefühl, viele sind dankbar für das, was ich für sie gemacht habe. In der Politik heisst es, die Leute vergessen sowieso. Ich glaube, das stimmt nicht.

Weltwoche: Was müssen Deutschschweizer über Genfer wissen, um sie zu verstehen?

Maudet: Der Genfer wertschätzt Arbeit, das kommt vom Protestantismus. Jemand, der sich Mühe gibt, soll belohnt werden.

Weltwoche: Was ist die falscheste Vorstellung über die Genfer?

Maudet: Dass wir Franzosen sind. Klar, wir haben die gleiche Sprache, das gibt eine gewisse Nähe. Aber in Genf sind wir sehr stolz, Schweizer zu sein – einfach auf eine andere Art.

Weltwoche: Was läuft in der Genfer Politik anders?

Maudet: Wir spüren die französische Kultur. Politik in Genf ist Spektakel, viel Theater, sehr offensiv.

Weltwoche: Passend zum Provokateur Maudet. Wie kam es zu dieser Reizfigur?

Maudet: Meine Tabubrüche waren immer gezielt, aber nie für mich selber. Mir ging es darum, etwas zu bewegen. Es ist nicht falsch, sich zu streiten – im Gegenteil. Nur vermisse ich heute oft das gemeinsame Ziel, das Gemeinwohl der Bevölkerung.

Weltwoche: Warum wurden Sie eigentlich Politiker?

Maudet: Das war ganz früh: 1993, mit fünfzehn, gründete ich in Genf das Jugendparlament. Ich sagte mir: Du musst mitmachen, sonst beschliesst die Politik, was dir nicht passt. Das ist der Faden: mitmachen statt nachvollziehen. Ich sah konkrete Probleme, die mich störten: Ich wollte einen Skatepark, weil ich gerne skatete, also setzte ich mich dafür ein. Das Gleiche bei Nachtbussen. So geht für mich gute Politik.

Weltwoche: Sie sagten einst: «Ich mache Politik, weil ich die Macht liebe.» Können Sie das ausführen?

Maudet: Ich mache keine Politik, um Geld zu verdienen – so ist es korrekt. Für mich ist Verantwortlichkeit zentral. Ich trug immer die volle Verantwortung. Heute weiss ich, wie weit ich gehen kann. Ich habe die Grenzen ausgelotet.

Weltwoche: Wie sieht Ihre Zukunft aus?

Maudet: Frei, noch unabhängiger, sicher politisch.

Weltwoche: Wie politisch?

Maudet: Lassen Sie sich überraschen!

Weltwoche: Überlegen Sie sich, 2023 wieder zu kandidieren?

Maudet: Für diese Frage nehme ich mir Zeit. Ich stehe aber voll und ganz zum Kanton Genf. Mich beunruhigt die linke Regierung, ich sorge mich um unseren Wirtschaftsstandort. Als ehemaliger Wirtschaftsvorsteher werde ich mich für die Léman-Gegend einsetzen, als Unternehmer, besonders im digitalen Feld.

Weltwoche: Bereuen Sie es, in Ihrem Leben voll auf die Karte Politik gesetzt zu haben, ohne zweites Standbein?

Maudet: Im Stadtparlament war ich Milizler und selbständig. Was in den nächsten Tagen passiert, weiss ich noch nicht genau. Es wird sicher komisch, keine öffentliche Rolle mehr zu haben. Lassen Sie sich aber überraschen, was ich noch bewegen werde.

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