Freiwillig auf der Intensivstation

Alessandro Battaglia, 29, spendete Blutstammzellen. Er riskierte seine Gesundheit, um einem fremden Menschen das Leben zu retten.

Veröffentlicht in Die Weltwoche, 12. Mai 2021.

Bild: Linda Pollari.

Die letzten Wochen im Leben von Alessandro Battaglia, 29, waren turbulent: Erst zog er mit seiner Freundin zusammen, dann wurde er befördert; neu darf er sich bei einer Schweizer Grossbank «Associate Director» nennen. Vor allem aber spendete er seine Blutstammzellen, die rote und weisse Blutkörperchen entstehen lassen.

Dass dies kein alltäglicher Eingriff ist, zeigt die Statistik: In der Schweiz sind es jährlich keine hundert Menschen, die unverwandte Stammzellen für irgendeine Person auf der Welt spenden. Eine Blutspende ist damit nicht vergleichbar, sie ist im Vergleich geradezu ein Klacks. Um an die Blutstammzellen zu gelangen, müssen diese aufwendig aus dem Blut herausgefiltert werden.

Die Vorbereitungen dauern Monate. Die Blutstammzellenentnahme erfolgt im Spital auf der Intensivstation, beträgt mehrere Stunden, ist für den Spender mühsam, für den Empfänger aber überlebenswichtig: Bei der Blutstammzellenspende geht es um Leben und Tod. Frische Blutsttammzellen sind für todkranke Patienten mit Blutkrankheiten meist der letzte Funken Hoffnung, um zu überleben.

Dass Battaglia aufgrund seiner genetischen Voraussetzungen diese Hoffnung schenken und über ein Schicksal bestimmen konnte, grenzt an ein Wunder: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich aus acht Milliarden Menschen weltweit zwei sogenannte genetische Zwillinge finden, ist verschwindend klein.

Dass es passt, ist mit einem Sechser im Lotto vergleichbar. Oder anders: Die Chance auf eine Stammzellentransplantation ist, wie wenn man mit zehn Würfeln zwei Mal hintereinander das genau Gleiche würfelt – eben: praktisch null.

Milliarden Kombinationen

Nicht ganz so unwahrscheinlich, aber trotzdem zufällig war, dass Battaglia überhaupt im Register für Stammzellenspender landete: Er, der meist zu spät unterwegs ist, erinnert sich, wie er an einem Tag im ersten Semester zu früh auf dem St. Galler Uni-Campus eintraf. Vor dem Gebäude habe man ihn beim Stand des Roten Kreuzes angesprochen, das Interesse an ihm als potenziellem Spender sei besonders gross gewesen.

Battaglia hat die seltenste Blutgruppe: AB. Als junger, sportlicher Mann war er als Spender prädestiniert. Er sagt, ihm sei zwar nicht ganz klar gewesen, um was es genau ging. Aber es habe wichtig geklungen. So habe er keine Sekunde gezögert und sich auf die Spenderliste setzen lassen.

Insgesamt zählt das Register heute rund 38 Millionen Menschen weltweit als potenzielle Spender. In Frage kommen Menschen zwischen 18 und 40 Jahren, die in guter gesundheitlicher Verfassung sind. Im Normalfall werden sie aber nie aufgeboten, denn die Genmerkmale auf der Zelloberfläche können Milliarden unterschiedlicher Kombinationen aufweisen. Nur in den seltensten Fällen stimmen sie mit denen des Empfängers überein.

Lange passierte auch bei Battaglia nichts. Dass er sich vor fast zehn Jahren registrieren liess, hatte er vergessen. Der Anruf habe ihn aus dem Nichts erreicht: Im Februar 2020 hiess es, seine Stammzellen würden dringendst gebraucht.

Die Blutstammzellen wurden für die Transplantation reserviert, vier Monate war Battaglia auf Abruf. Die Zeit verstrich ungenutzt. Battaglia dachte anfänglich, der Patient sei geheilt oder verstorben. Im September meldete sich das Rote Kreuz erneut: «Die Transplantation findet jetzt statt.»

Per Kurier

Noch am Telefon habe er bestätigt, die Spende durchzuziehen, sagt Battaglia. Es folgten Gespräche und Untersuche. Fünf Tage vor dem Eingriff musste er sich zweimal pro Tag Wachstumsfaktoren spritzen, um die Zellproduktion anzuregen. Als Nebenwirkungen litt er an Grippesymptomen, hatte Kopf- und Gliederschmerzen, dazu leichtes Fieber.

Am Tag X lief er im Spital durch die Onkologiestation, wie er erzählt. Dabei sah er Menschen, die seine Blutstammzellenempfänger hätten sein können: eingefallene Gesichter und Körper von Frauen und Männern, kahlgeschorene Kinder; viel Leid und wenig Hoffnung.

«Mir wurde klar, warum ich das alles mache», erinnert sich Battaglia. «Ich würde mir das Gleiche wünschen, wenn ich oder jemand aus meiner Familie in einer solchen Situation wäre.» Den Termin hätte er niemals sausen lassen, obwohl die Ärzte betonten, er könne es sich noch anders überlegen. «Aber dann», sagt Battaglia, «wäre das Schicksal des Patienten besiegelt gewesen.»

Um Blutstammzellen empfangen zu dürfen, muss eine schwerwiegende Erkrankung des blutbildenden Systems vorliegen, wie eine Sprecherin der Blutspende des Schweizerischen Roten Kreuzes erklärt. «Meist leidet der Blutstammzellenempfänger an Leukämie.» Schweizweit seien es rund tausend Personen, Kinder und Erwachsene, die jährlich daran erkrankten. Nicht alle benötigten neue Stammzellen. «Medizinisch sind sie der letzte Trumpf, wenn die Chemo- oder die Bestrahlungstherapie nicht mehr wirken.»

Das Verfahren, um den Empfänger auf die neuen Blutstammzellen vorzubereiten, gleicht einer Odyssee: Mit einer hochdosierten Chemotherapie werden möglichst alle Krebszellen zerstört. Der menschliche Körper werde maximal strapaziert, am absoluten Limit des Aushaltbaren. Die Prozedur wird als «Grenzerfahrung» bezeichnet, manche sprechen von einem «Höllenritt».

Die gesunden Spenderblutstammzellen werden danach implantiert. Ein Kurier überbringt sie innerhalb von maximal 72 Stunden. Wenn es sein muss, wird nach Japan geliefert. Ein solcher Prozess koste die Blutspende des Schweizerischen Roten Kreuzes mehrere zehntausend Franken, die von der Krankenversicherung des Empfängers bezahlt werden. Dem Schweizer Spender fallen keine Kosten an – nicht einmal das Trambillett; auch die Arbeitgeberin wird entschädigt.Der Aufwand bezeuge, dass kein Menschenleben aufgegeben werden soll – «egal, von wem», teilt die Blutspende Schweiz mit. Eine Blutstammzellenspende schenke Kindern in rund 90 Prozent der Fälle ein neues Leben. Die Überlebenschance von Erwachsenen beträgt im Schnitt 60 Prozent.

«Ich war erstaunt, wie viel ich mit meinen Stammzellen bewirken kann», sagt Battaglia. Den Entscheid, monatelang auf Abruf zu sein und etwas von seinem Körper zu geben, habe er nie bereut. Nicht einmal, als er auf der Intensivstation lag, angeschlossen ans Dialysesystem. Sein Blut floss durch eine Zentrifuge. Dort wurden die wertwvollen Stammzellen isoliert und in einen Beutel abgeleitet. Die kleinste Bewegung habe zu einem Pieps-Geräusch geführt, worauf die Geräte sich neu kalibrierten. «Es gibt Angenehmeres», sagt Battaglia.

Eine Krankenschwester habe ihm während des Prozederes gesagt, dass eine Person auf der Welt gerade fest an ihn denke, erinnert er sich. Auf dem Ausweis, mit dem er sich im Spital anmeldete, steht «Lebensspender». Nur eine Nummer kennzeichnet seine Identität. Gleichermassen erging es seinem Gegenüber. Spender und Empfänger wissen voneinander nichts. Mit Menschenleben soll nicht geschäftet werden, teilt die Blutspende des Schweizerischen Roten Kreuzes mit.

Handkehrum bedeutet diese Unwissenheit, dass Battaglias Spende einen x-beliebigen Menschen auf der Welt erreicht: «Was wäre, wenn . . .?», habe er sich auch noch auf der Intensivstation überlegt und dabei an die abstrusesten Beispiele gedacht. Unter dem Strich, sagt er, sei es um ein Menschenleben gegangen. «Jede Person auf der Welt verdient es, zu leben.»

Nach fünf Stunden auf dem Schragen war der Eingriff vorbei. Battaglia sagt, er sei perplex gewesen, wie viel Wertschätzung ihm entgegengebracht wurde. Selbst Pfleger, die nichts mit ihm zu tun hatten, hätten sich bedankt. Ihm sei ein Geschenkgutschein überreicht worden, dazu ein Kugelschreiber. Eingraviert steht: «Danke».

Einmalige Kontaktaufnahme

Er habe sich in der Folge auf den Weg zu seinen Eltern gemacht. Eine Woche Isolation sei ihm auferlegt worden, um das lädierte Immunsystem nicht zu überlasten. Wenige Tage später habe er sich bereits besser gefühlt. Heute sei er genesen. Nur beim Sport merke er, dass sein Körper etwas schlapper als zuvor sei.

Über das Schicksal seines Konterparts weiss Battaglia nichts. Das Rote Kreuz ermöglicht ihm und dem Empfänger eine Kontaktaufnahme. Er kann, wenn er will, einen Brief verfassen. Dieser wird dem genetischen Zwilling übermittelt; das Gleiche umgekehrt. Jeder weitere Austausch ist dann den beiden überlassen.

Er wolle sich auf jeden Fall mitteilen, sagt Battaglia. Wenn möglich, würde er die Person sogar kennenlernen wollen. «Ich will einfach wissen, ob ein normales Leben möglich ist», meint er. «Mehr nicht.» Ein negativer Bescheid würde ihn treffen, sagt er.

Wenige Tage nach unserem Treffen meldet Battaglia per SMS, die Transplantation sei geglückt. Ihm sei mitgeteilt worden, seine Stammzellen seien angekommen. Vom Patienten habe er bis jetzt nichts gehört. Er schreibt aber: «Es hat sich gelohnt.»

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