«Ich bin Anna Göldi»

Die ETH entlässt erstmals in ihrer 164-jährigen Geschichte eine Professorin. Der Vorwurf lautet «Mobbing». Hier äussert sich Marcella Carollo, die geschasste Astrophysikerin, über die Affäre. Und erhebt schwere Vorwürfe.

Veröffentlicht in Die Weltwoche, 20. März 2019

Bild: Lukas Mäder.

Ihr Leben sei schrecklich, sagt Marcella Carollo, bis Freitag vor einer Woche ordentliche Professorin für Astrophysik an der ETH Zürich. Sichtlich nervös stöbert die Wissenschaftlerin im Blätterstapel vor sich auf dem Tisch im Sitzungszimmer einer kleinen Anwaltskanzlei. «Kennen Sie die Geschichte von Anna Göldi?», fragt sie. Carollo hat den Wikipedia-Eintrag über die «letzte Hexe» der Schweiz ausgedruckt und schiebt ihn herüber. Sie erklärt sich hastig. Erst als sie bei ihren Kerngebieten, dem Universum und Galaxien, anlangt, beruhigt sich ihre Stimme. Es war 2002, so Carollo, als sie an die ETH kam und die Solarphysik um die Arbeit mit dem Teleskop bei Nacht erweiterte. «Wunderbare Wissenschaft» nennt sie ihre Arbeit, «mehrfach preisgekrönt». Sie selbst gehöre zum «obersten Prozent aller zitierten Wissenschaftler weltweit». 

Frau Carollo, ETH-Präsident Joël Mesot entschuldigte sich am Freitag, als er Ihre Entlassung bekanntgab, öffentlich für Ihr Verhalten gegenüber Doktoranden. Zu Recht?

Ich denke, jeder an der ETH hat eine Entschuldigung verdient. Sie sollte nicht nur den Doktoranden gelten, sondern auch dem Personal, den Professoren, allen. Der Ruf der Institution als Ganzes ist betroffen. Der angebliche Sieg der Doktoranden ist ein Scheinsieg. Wir sitzen im gleichen Boot.

Aber es geht doch um die Studenten. Sie sollen gesagt haben, ihre Gehirne seien zu klein.

Das habe ich nie gesagt.

So titelte der Tages-Anzeiger.

Das ist eine manipulierte, falsche Darstellung.

Gab es Tränen während oder nach einem Gespräch mit Ihnen?

Ja, aber selten. Ich war nie beleidigend. Menschen reagieren manchmal emotional, gerade in einem kompetitiven Arbeitsumfeld. Ich versuchte stets, zu fördern und zu fordern.

Vielleicht waren Sie zu grob.

Beim Fall der angeblich gemobbten Doktorandin hatte ich das Gefühl, der Fortschritt ihrer Arbeit verlaufe nicht ideal. Das sagte ich ihr auch. Aber meine Worte waren ermutigend, dafür gibt es schriftliche Belege.

Es heisst, ein ehemaliger Student von Ihnen habe einen «Nervenzusammenbruch» erlitten. Das scheint schwerwiegend.

Es gab einen Zusammenbruch, das war aber nichts Nervliches. Der Student musste professionelle Beratung einholen, weil er sich stark unter Druck fühlte.

Wegen Ihnen?

Wegen der Arbeit. Die ETH ist eine wettbewerbsorientierte Umgebung. Ich suchte sofort nach professionellem Rat für ihn, und dieser Rat lautete, es sei besser, mit der Dissertation aufzuhören. Am Schluss gab es eine einvernehmliche Lösung, und der ehemalige Doktorand bestätigte 2017 sogar, dass es sich nicht um Mobbing gehandelt habe. Das Wort «Mobbing» wurde erst von der NZZ am Sonntag aufgebracht. Seitdem wird alles, was ich je getan haben soll, als Mobbing bezeichnet. Der Rest der Medien kopierte einfach die NZZ am Sonntag. Aber die ETH hat nie gesagt, welches unangemessene Benehmen sie mir vorwirft.

Warum wurden Sie denn entlassen?

Weil ich «uneinsichtig» sei.

Was heisst das genau?

Die ETH sagt, dass ich meine Taten nicht eingestehen und mich nicht verbessern wolle. Schauen Sie, jeder kann sich verbessern, man muss aber wissen, wo genau. Ich liess meine Doktoranden zum Beispiel eine Stunde täglich Fachliteratur lesen. Wenn die ETH gesagt hätte, eine halbe Stunde sei genug, dann wäre ich bereit gewesen, das zu ändern. Ich wollte auch, dass meine Doktoranden ausgezeichnete Präsentationen halten, wenn sie an Konferenzen auftreten. Deshalb übten wir die Präsentationen lange. Die NZZ am Sonntag hat das als «Mobbing» bezeichnet, und die ETH hat mit ihren Pressemitteilungen diese Propaganda verschärft.

Das heisst, Sie führen eher streng?

Mein Motto war, dass ich für die Studenten, die zu mir kommen und ihre Karriere in meine Hände legen, alles tue. Meine Doktoranden und ich waren ein Team, und das Ziel war, Erfolg zu haben.

Und dabei haben Sie nie eine Grenze überschritten?

Auf keinen Fall! Ich habe nur sichergestellt, dass die Doktoranden ihr maximales Potenzial erreichen.

Was verstehen Sie unter «Mobbing»?

Fehlenden Respekt. Diesen «Respekt» hat die ETH in ihren Pressemitteilungen übrigens oft beschworen, mich aber nie spüren lassen. Was habe ich getan? Ich bat meine Studenten, eine Stunde täglich zu lesen, benutzte aber niemals eine unangemessene Sprache und sprach schon gar nicht von irgendwelchen Gehirngrössen. Die Kampagne gegen mich, das ist Mobbing.

ETH-Präsident Mesot sprach von Fehlern der ETH. Was meint er?

Ich hoffe, Sie stellen diese Frage auch ihm. Die Fehler reichen von unethischem Verhalten der Ombudsstelle, die eine vertrauliche Information durchsickern liess, bis hin zu Amtsmissbrauch. Ich wurde mit den Vorwürfen nie richtig konfrontiert. Das ist doch ein Menschenrecht, nicht? Alles wurde geheim gehalten. Sogar Professorenkollegen forderten ein faires Verfahren. Ich habe sicher nie gesagt, es solle ohne Untersuchungen ein Urteil gefällt werden. Lasst uns ein faires Verfahren führen, bitte. Das ist der Grund, warum ich meine Situation mit der letzten Hexe vergleiche: Ich bin die heutige Anna Göldi.

Wurden Sie nie von der ETH angehört?

Nein, bis heute nicht. Mit dem Ombudsmann konnte ich nur einmal sprechen, nach einem Treffen am 9. Februar 2017 mit dem Prorektor und der Departementsleitung. Ich suchte ihn auf, weil ich an diesem Treffen selbst schikaniert worden war. Mir wurde damals mitgeteilt, Studenten und Doktoranden hätten sich über mich beschwert, ohne dass ich erfuhr, was ich getan haben soll. Auf meine Nachfrage erhielt ich keine Antwort. Konkret wurde mir nur vorgeworfen, dass ich meine Leute nicht an Konferenzen geschickt hätte und solche Dinge. Ich antwortete, dass dies nicht wahr sei, und von diesem Moment an wurde ich für «uneinsichtig» erklärt. Die Tortur dauerte drei Stunden, und am Ende weinte ich.

Damals war Lino Guzzella Präsident der ETH. Hat er jemals mit Ihnen gesprochen?

Ja, drei Mal. Zum ersten Treffen ging ich ohne Anwalt. Ich dachte, dass der Präsident eingreifen und mir wenigstens einen fairen Prozess bieten würde. Stattdessen wurde ich darüber informiert, dass er das Institut schliesse. Ich war schockiert. Guzzella zeigte auf mich und sagte, dass ich das Problem sei. Ich hatte den Präsidenten einer Universität vor mir, und er demontierte ein ganzes Institut, weil er unbewiesenen Vorwürfen gegen eine einzelne Person glaubte.

Wie sind diese Vorwürfe überhaupt an die Medien gelangt?

Das weiss ich nicht. Die NZZ am Sonntag zitierte aus einem vertraulichen Brief des Ombudsmanns, den dieser an Guzzella und den ETH-Rat geschickt hatte. Der Artikel vermeldete meine Entlassung, als ich noch ein Coaching bekam von der ETH. Und der Artikel erwähnte eine Person, die mit der Angelegenheit vertraut sei und über den möglichen Skandal informiert habe. Monate später hörte ich, dass der Journalist Roger Schawinski zu Insiderinformationen gekommen sei. Sein Sohn, Kevin Schawinski, hat am Institut für Astrophysik gearbeitet. Ich habe ihn betreut.

Ist Kevin Schawinski ein Drahtzieher?

Ich werde es wohl nie erfahren, alles ist geheim. Ich finde, es sollte eine Untersuchung geben – auch über seine Rolle.

Was haben Sie gemacht, als 2017 die Anschuldigungen öffentlich wurden?

Ich habe versucht, meine Würde zu wahren. Ich weiss, wer ich bin und was ich getan habe. Ich habe immer wieder um die Möglichkeit gebeten, mich den falschen Anschuldigungen zu stellen. Das wurde mir systematisch verwehrt.

Wie sieht Ihre Zukunft aus?

Die ETH hat alles getan, um meine Karriere zu zerstören, die ich mir 25 Jahre lang hart erarbeitet hatte. Dass ich eine kompetente Wissenschaftlerin bin, hat die zweite Untersuchung gezeigt, wo es um ein wissenschaftliches Fehlverhalten ging. Diese Untersuchung ist abgeschlossen, und ich wurde für nicht schuldig befunden. Aber ja, die ETH hat mich erledigt. Ich habe keine Ahnung, in welche Richtung meine Zukunft geht. Das Einzige, was ich will, ist ein faires Verfahren.

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