Hände über dem Kopf

Jugendliche Klimaaktivisten aus Europa trafen sich während einer Woche in Lausanne. Am Ende zogen sie antikapitalistische Parolen skandierend durch die Stadt. Sie wollen die Gesellschaft ändern. Unterstützt werden sie auch von öffentlichen Institutionen aus der Schweiz.

Veröffentlicht in Die Weltwoche, 14. August 2019

Bild: unsplash.com.

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«What do we want?», brüllt ein etwa vierzehnjähriger Bub auf der Place de la Gare in Lausanne. Er hat rote Haare und Sommersprossen, seine Stimme ist hoch und grell und überschlägt sich beim Wiederholen der Frage. Die versammelten Klimademonstranten quittieren die Frage mit «climate justice» – Klimagerechtigkeit. Hin und her geht das Spiel, bis die Menge in Jubel ausbricht. Der Junge, rot angelaufen und sichtlich ausser Atem, strahlt vor Glück. Eine Dame, vielleicht Anfang sechzig, applaudiert und klopft ihm anerkennend auf die Schulter.

Es ist der Anfang vom Ende des fünftägigen Sommertreffens in Lausanne, bei dem sich Klimaaktivisten aus 37 Ländern trafen. «Smile for Future» hiess der Anlass, bei dem die nationalen «Strike for Future»-Bewegungen miteinander koordiniert und ein globaler Zusammenhalt geschaffen werden sollte.

Salvini soll sich fügen

Greta, die erste Klimaaktivistin aus Schweden, ist ebenfalls hier. Sie steht rund vier Meter entfernt da und schützt sich mit ihrem Schild vor der Sonne. Ein Erwachsener steht ihr zur Seite, um sie herum viele Jugendliche. 2500 Menschen sollen insgesamt gekommen sein – «für die Zukunft, eine bessere Gesellschaft und den Planeten», wie es auf der Website von «Smile for Future» heisst. Um fünfzehn Uhr beginnt der Marsch in Richtung See, begleitet von der Parole «System change, not climate change».

Was das bedeute, will ich von Marco wissen. Er trägt Jeans, kein T-Shirt, grinst mich an und singt lautstark. Keine Antwort. Wie sich herausstellen wird, ist er aus Sizilien angereist. Die Tickets für Fähre und Zug habe er vorfinanziert, sagt er. «Hoffentlich wird der Betrag zurückbezahlt.» Das sei ihm so versprochen worden. Ein Fundraising ermögliche die Rückerstattung. Klimastreik Schweiz, die Stadt Lausanne und die Universität Lausanne werden unter anderem als «grösste Donatoren» auf der «Smile for Future»-Website verdankt. Die Universität Lausanne präzisiert: «Wir haben einzig Hörsäle und wissenschaftliches Fachwissen zur Verfügung gestellt», sagt Benoît Fund, stellvertretender Leiter für Nachhaltigkeit. Von der Stadt Lausanne ist vor Redaktionsschluss keine Stellungnahme erfolgt.

Ich frage Marco, wo die Klimabewegung hinführen soll. Er wartet einen Moment, bevor er spricht. Aus den vorderen Reihen der Masse ragen Arme in den Himmel. Die Finger formen einen geschlossenen Mund, wie es früher die Kindergartenlehrerin tat. Allmählich verstummt die Masse. Marco sagt kein Wort. Als ein neuer Sprechchor («We are unstoppable, another world is possible») angestimmt wird, führt er aus, dass er genau so wie bis jetzt weitermachen wolle: «Wir demonstrieren weiter, bis jeder auf die Wissenschaft hört.» Ob er glaube, dass das Matteo Salvini, den italienischen Innenminister, interessiere, frage ich. «I don’t care.» Für ihn sei klar, die Politik müsse umsetzen, was die Wissenschaft herausgefunden hat – ganz einfach.

Steht die Wissenschaft über der Regierung? Für die sechzehnjährige Freya aus London und für Frances, achtzehn, aus Bath stelle sich diese Frage gar nicht. «Das sind objektive Fakten, der Fall ist klar.» Das hätten sie auch Boris Johnson, dem britischen Premierminister, in einem offenen Brief mitgeteilt. Sie wollen mit ihm über die Forderungen der Klimajugend sprechen. Diese Ansprüche gingen über reine Umweltmassnahmen hinaus: «Die Bildung muss gefördert und das right to vote auf sechzehn Jahre gesenkt werden. Es geht um das System», sagt Frances.

Freya und Frances tragen zusammen ein Leintuch mit einem Spruch auf der Vorderseite. Ich folge ihnen und frage, bevor ich sie in der Masse verliere, ob sie in Bezug auf ihr Verhandlungsvorhaben mit Boris Johnson optimistisch seien. «Nein», sagen sie dumpf. Trotzdem probierten sie es weiter. Schon Theresa May habe ihnen zweimal einen Korb gegeben. Ein Austausch war bisher nicht möglich, weshalb das Treffen in Lausanne umso wichtiger sei, damit die weltweite Bewegung in die gleiche Richtung marschiere. «Unglaublich, dass wir uns auf drei Lösungen einigen konnten», sagt Freya und zieht weiter.

Applaus für Felix aus Deutschland

Er blicke auf eine «ziemlich gute Woche» zurück, sagt Max, 24, aus Wien, während die Menge ein nächstes Lied intoniert: «The oceans are rising, and so are we» – der Meeresspiegel hebt sich, wie auch wir uns erheben. Max streicht heraus, dass die Lausanner Deklaration einstimmig beschlossen wurde. Sie fordert, das der Temperaturanstieg auf weniger als 1,5 Grad Celsius eingedämmt, Klimagerechtigkeit geschaffen und auf die Wissenschaft gehört werden soll. Zu Tränendramen und Streitereien sei es nur bei Detailfragen gekommen.

Nach gut einer Stunde erreicht der Umzug das Théâtre de Vidy. Auf der Wiese direkt beim See steht eine kleine Bühne, auf der sich die Sprecher der verschiedenen Länder aufreihen und abwechselnd das Wort ergreifen. Tyra, aus Irland, ist eine der ersten. Sie stellt sich vor, streckt einen Arm zur Jubelpose in die Luft, macht einen kurzen Knicks und kreischt ins Mikrofon. Das Publikum ist begeistert, viele winken mit den Händen über dem Kopf, was Applaus bedeuten soll, noch bevor die junge Frau überhaupt mit ihrer Rede beginnt.

Auch Felix, der bald siebzehn wird, johlt vor Freude, als er sich und sein Heimatland Deutschland vorstellt. «Wuhu!», schreit er. Nach den Darbietungen treffe ich ihn zufällig auf der Wiese. Als er von seiner Woche in Lausanne erzählt, kommt er auf die Turbulenzen zu sprechen: «Es haben Leute emotional reagiert, ja. Aber eskaliert ist es nicht. Das ist halt so, wenn 450 Leute zusammenkommen.»

Was er als Mitglied der deutschen Klimabewegung fordere? «In Deutschland soll bis 2030 Schluss mit Kohle sein, und nicht erst 2038.» Kein Systemumbau? «Doch.» Also stehe auch er hinter dem Ruf «A, Anti, Anticapitalista», der während der Demonstration von einer kurzhaarigen Frau mit Megaphon, neben ihr ein vermummter mit einer schwarz-roten Fahne, angestimmt wurde? «So weit würde ich nicht gehen.» Nein? «Wenn es fürs Klima die einzige Lösung ist, dann schon, sonst nicht. Dass der Kapitalismus langfristig aber nicht die ideale Form ist, sehen wir anhand der Probleme.»

Wunderschön und teuer

Sie habe erstmals Demokratie in dieser Form erlebt, sagt Elena, 27. Sie sitzt im Schneidersitz auf dem Rasen, neben ihr liegt die neunzehnjährige Veronica auf dem Bauch und stützt den Kopf mit den Händen. Beide stammen aus Moldawien. «Langfristig funktioniert nur diese Form», sagt Elena und erklärt, dass bei «Smile for Future» alle mit allem einverstanden sein müssten. «Nur so wird niemand zurückgelassen.»

Dass es zu Tränen gekommen sei, bezeichnet sie als menschlich. «Alle haben bis spät in die Nacht gearbeitet, der Druck war enorm.» Zudem habe es eher an sprachlichen Missverständnissen gelegen, dass Anwesende mit den Händen jene Symbole formten, die für Unwohlsein oder Ablehnung stehen. Diese Form der Kommunikation habe sich bewährt. «Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob dieses Modell weltumfassend möglich wäre», sagt Elena. «Bei gewissen Lebensfragen braucht es das aber, dass alle einverstanden sind.»

Es sei eine Bereicherung gewesen, auf eine neue Weise mit Menschen zu kommunizieren. Sie habe dabei viel gelernt. In Erinnerung bleiben werde ihr auch, wie sauber das Trinkwasser, wie wunderschön und teuer Lausanne sei. «Vor allem aber», sagt Elena, «dass das System hier funktioniert.»

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