Grüne Wiesen statt grüne Politik
Alarmstufe Dunkelrot bei den Umweltpraktikern: Die beiden Agrarinitiativen bereiten Toggenburger Bauern Existenzängste.
Veröffentlicht in Die Weltwoche, 27. Mai 2021.
Franziska Herren sprach vermeintlich im Namen der gesamten Gesellschaft: «Wir Bürgerinnen und Bürger möchten keine Lebensmittelproduktion subventionieren, die zu Gewässerverschmutzungen führt», sagte die Initiantin der Trinkwasserinitiative in der «Arena» des Schweizer Fernsehens. Die 51-Jährige ist Fitnesstrainerin. Für die Landwirtschaft interessiert sie sich seit 2011, weil sie bei einem Spaziergang im Jura sah, wie ein Kalb von der Mutterkuh weggenommen wurde – für die Milchproduktion. Herren begann zu recherchieren, heute ist sie die «mächtigste Gegnerin der Agrarlobby» (Watson).
An ihrer Seite argumentierte Tiana Moser, seit 2007 Nationalrätin. Die Fraktionschefin der Grünliberalen Partei sagte, die Schweiz betreibe «keine naturnahe Landwirtschaft». Sie wohnt in der Stadt Zürich, ihr Lebenspartner, SP-Nationalrat Matthias Aebischer, lebt in der Stadt Bern. Bei so viel Urbanität und Theorie fragt sich, wie die Stimmung auf dem Land ist.
Verunkrautet und verwildert
Ausserhalb der Ballungszentren weht ein anderer Wind: Je grüner die Landschaft, desto ferner ist grüne Politik. Egal, ob im Emmental, Entlebuch oder Toggenburg – Plakate, Schilder und Fahnen gegen die Agrarinitiativen spriessen aus dem Boden, als wäre er gedüngt worden.
«Der Stadt-Land-Graben sei gross», sagt Ueli Kuratli. Der Landwirt steht vor seinem Stall, in dem dreissig Milchkühe und ein Radio für Geräusche sorgen. «In der Stadt haben sie ein anderes Denken.» Seine drei Schwestern wohnen in Zürich, er wohne lieber näbedusse. Stein, ein 350-Seelen-Dorf in der Gemeinde Nesslau im Toggenburg, liegt in Sichtweite. «Wir haben wenige Möglichkeiten», aber er habe alles, was es zum Leben brauche, er sei bescheiden. Geflogen sei er erst einmal, vor dreissig Jahren, nach Amerika. Ferien mache er «ab und zu» – also wenig.
Es ist Freitagmorgen und regnerisch. Wir unterhalten uns unter dem Vordach seines Hofes. Der 58-Jährige führte ihn einst biologisch. Es war zu viel Arbeit für ihn und seine Frau Marie-Theres, 54, die mit ihrer 78-jährigen Mutter Theres soeben vor dem Stall parkiert. Vor wenigen Jahren musste das Ehepaar umstellen. Mit dem «Stechen», dem Unkrautjäten, seien sie nicht nachgekommen, wie Marie-Theres Kuratli sagt, während sie eine Katze streichelt.
«Placken» heisst ihr Hauptproblem – ein Unkraut, das sich wie wild vermehrt und ausbreitet. Um das Vieh mit eigenem Futter zu ernähren, spritzen sie «selten». Das Pflanzenschutzmittel, das verwendet werde, sei teuer; rund vierzig Franken koste ein Kanister. Leidige Stöcke würden sie einzeln behandeln. «Wir wollen auch kein vergiftetes Zeug – das will ja niemand.» Antibiotika für ihre Tiere seien daher sowieso kein Thema, ausser sie seien vom Tierarzt verschrieben.
Kämen die Initiativen durch, resultierte ein Mehraufwand mit weniger Ertrag. «Eine Lösung gibt es immer», sagt Ueli Kuratli zweckoptimistisch. «Wir müssten uns aber extrem anpassen.»
Wenige Fahrminuten später, in der Hinter Laad, eilt Ueli Rutz vom Kuh- in Richtung Hühnerstall. Er sagt, er habe nur wenig Zeit, gleich würden die Eier verladen. Mit seinen Produkten belieferte er einst die Migros, heute ist es der Detailhandel im Thurgau.
Seit vierzig Jahren bauert Rutz, seine Berufung ist eine Familientradition, die drei Jahrhunderte zurückreicht. Er, der unter anderem 500 Legehennen hält, freue sich, bald aufzuhören, sagt der 61-jährige Familienvater. Ein Sohn werde übernehmen, alles sei aufgegleist – eigentlich. «Wenn die Trinkwasserinitiative angenommen wird, müssen wir die Hennen aufgeben.»
Sein Problem: Hühnerfutter müsse er dazukaufen. Und weil ihm der Initiativtext deswegen Direktzahlungen verwehren würde, bräche ihm die Hälfte der Einnahmen weg. «Jetzt habe ich eine Existenz, nachher hätte ich keine mehr», sagt er, bevor er davoneilt. Ein Lastwagen fährt vor, um die Eier abzuholen. Rutz: «Wissen Sie, viele wissen gar nicht mehr, woher ihr Essen kommt. Und wie es produziert wird, sowieso nicht.»
Vor dem Mittag besuchen wir den Milchbetrieb der Familie Stauffacher. In ihrem Stall in Dergeten leben vierzehn Kühe und dreissig Geissen. Mutter Esther, 54, jätet auf dem Kräuterfeld neben dem Wohnhaus. Ehemann Melchior arbeitet in der Landi, um etwas dazuzuverdienen. Tochter Miriam, 34, bespritzt von der Strasse aus ein Feld mit Gülle. Sie habe die nasse Wiese nicht kaputtmachen wollen, erklärt sie, nachdem sie den Traktor parkiert hat. Auch auf den Bach achte sie: Sechs Meter betrage die Distanz, um nicht das Wasser zu verschmutzen; Pestizide verwende man erst, seit vor drei Jahren das Unkraut überhandgenommen habe.
Miriam, die künftige Hofchefin, ärgert sich, dass immer die Bauern an allem schuld seien. Klar gebe es faule Eier. Landwirte seien aber auf gute Böden angewiesen, «nur so haben wir langfristig Ertrag».
Die Natur einfach so vergiften dürfe sie gar nicht, fügt sie an. Die Landwirtschaftsarbeit sei «strengstens reguliert», Büroarbeit gehöre zum Alltag. So ist geregelt, was und wie viel sie wo düngen darf oder wie viel eine Kuh zu fressen bekommt. Bei ihrer intensiven Rasse sei es schwierig, mit Gras eine gute Milchqualität zu erhalten. Kraftfutter wie Mais sei zwingend nötig, sagt sie. Und auf 1000 Metern über Meer sowie mit sieben Wintermonaten sei es unrealistisch, Ackerbau zu betreiben. Wenn sie künftig keine Direktzahlungen bekomme, sei die Zukunft des Hofes ungewiss.
Für die Familie «verheerend» wäre auch die CO2-Initiative, wirft Mutter Esther Stauffacher ein. «Wir wohnen so abgelegen, wir haben gar keinen ÖV.» Diesel- und Benzinkosten für Maschinen und Autos wären irgendwann nicht mehr tragbar. Und Gemüse und Fleisch, das sie zum Essen in der Region kaufen, würden teurer, da sei sie sich sicher. Die Familie betreibt das Restaurant «Buurebeiz», ihre «Lebensversicherung» neben der Milchwirtschaft. Damit locken sie Gäste aus dem Unterland an. Die Begegnungen seien interessant; viele Städter glaubten von sich, dass sie grün dächten und lebten. «Und dann bestellen sie im Winter einen Coupe Romanoff mit Beeren.» Die Bäuerinnen lachen und schütteln den Kopf.
«Mogelpackung»
Mittagessen im «Haus der Freiheit»: Gastwirt Toni Brunner, ehemaliger SVP-Parteipräsident, der berühmteste Schweizer Landwirt, winkt beim Thema Agrarinitiativen ab. Er spricht von einer «Mogelpackung», die vordergründig Gutes, also mehr Ökologie, verspreche, im Detail aber die Nahrungsmittelimporte erhöhe. Auf der Strecke blieben die Kleinen. Mit seinen Milch- und Eringer Kühen und seinem Grünlandbetrieb wäre er zwar etwas weniger betroffen als Bauern mit Schweine-, Hühner-, Acker- und Obstbaubetrieben. Die Trinkwasserinitiative würde ihm aber Futter- und Strohzukäufe verwehren.
Grösser sind die Sorgen von Emil Zwingli in Wattwil. Mittlerweile hat der 68-Jährige die 36 Hektaren Weideland seinem Sohn verkauft, ebenso fünfzig Milchkühe. Mit seiner Frau Margrit betrieb er den Hof über fünfzig Jahre lang. Er hilft noch immer täglich im Stall, seine Frau Margrit kümmert sich um die Unkrautbekämpfung. Punktuell spritze sie den Klappertopf, eine «Krüppelpflanze». Mit einem Ja zu den Agrarinitiativen würde sich die Produktion einmal mehr verteuern, die Einnahmen wären geringer. In welchen Sphären die Auswirkungen lägen, sei nicht abzuschätzen. Seinem Sohn rät Emil Zwingli, so lange wie möglich im Spital zu arbeiten, um ein gesichertes Einkommen zu erwirtschaften. «Zumindest so lange, wie wir gesundheitlich noch helfen können.»
Landauf, landab sind es ähnliche Existenzängste, welche die Bauern umtreiben. Wegen Futter und Pestiziden wären auch die Perspektiven von Walter und Vreni Hüberli ungewiss. Ihren Hof haben sie 1992 übernommen, im Obern Stöbli, wie der Abschnitt oberhalb von Nesslau heisst. Der Ausblick auf 1200 Metern über Meer ist prächtig. Alles, was man sieht, ist Weite, grüne Felder, die Churfirsten. Das Wetter zeigt sich mittlerweile freundlicher.
Die Familie Hüberli hält 35 Kühe. Im letzten Jahr modernisierte sie ihren Hühnerstall für 50 000 Franken, 600 Legehennen finden darin Platz. «Wenn wir kein Hühnerfutter kaufen dürfen, können wir es vergessen», sagt der 54-Jährige. «Und wenn uns Direktzahlungen fehlen, sowieso.» Die Hüberlis beliefern die Schwägalp, regionale Dorfläden und Bäckereien direkt.
Pflanzenschutzmittel brauchen sie vereinzelt, ihr Feind ist die Ackerdistel. Trotzdem seien die Grenzwerte in ihrer Quelle nicht überschritten, sagt Vreni Hüberli. «Wir müssen sie immer wieder auf Rückstände untersuchen lassen.» Placken-Unkraut wachse fast keines mehr. Sie hätten in den letzten Jahren stark darauf achtgegeben, sagt sie, während sie in einem Feld steht. Sie fügt an: «Die Bauern schauen noch zur Natur, sonst macht es niemand.»