Eine der klügsten Frauen der Schweiz

Kerstin Vokinger, 31, hat einen Doktortitel in Medizin und einen in Rechtswissenschaft. Neuerdings ist sie Professorin an der Universität Zürich. Die Anwaltsprüfung machte sie nebenher. Wie passt das alles in ein Leben?

Veröffentlicht in Die Weltwoche, 4. September 2019

Bild: Nathan Beck.

Ein Treffen mit ihr dauere höchstens eine Stunde, sagte sie am Telefon. So viel habe sie nicht über sich zu erzählen, sie sei ja erst 31. «Frau Vokinger, sind Sie ein Wunderkind?», frage ich sie trotzdem, nachdem sie eben erst im Café am Zürcher Bellevue angekommen ist. Sie schaut weg und lächelt verlegen. «Das ist sehr freundlich von Ihnen.» Nein, als Wunderkind fühle sie sich nicht. Es gebe andere, die Beeindruckenderes geleistet hätten. Wie viel Understatement in dieser Aussage mitschwingt, verraten die Titel, die sie führt: Prof. Dr. iur. et Dr. med. Kerstin Vokinger, LL.M, Rechtsanwältin – und das alles mit, nochmals, 31 Jahren.

Ausgedeutscht heisst das: Vokinger ist Professorin an der Universität Zürich und hat zwei Doktortitel, einen in Rechtswissenschaft, einen in Medizin, zudem einen US-amerikanischen Postgraduierten-Abschluss sowie das Zürcher Anwaltspatent. Als speziell will Vokinger sich aber nicht bezeichnet wissen. «Ich bin absolut normal», insistiert sie.

«Sehr asiatisch erzogen»

Aufgewachsen zusammen mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder in einem Dörfchen im Aargau, wusste sie schon in der Primarschule, dass sie Anwältin werden wollte. Ihr Vater, ein gelernter Vergolder, der auf zweitem Bildungsweg Wirtschaft studiert hatte, erzählte ihr von diesem Beruf. Medizin war sein Wunsch Nummer zwei. Ihrem Vater sei aber wichtig gewesen, dass sie «einen Nagel grad einschlagen» könne. Dass Bildung einen wichtigen Stellenwert in der Familie hat, erklärt Vokinger mit der Herkunft ihrer Mutter, die von den Philippinen stammt. «Sie hat uns sehr asiatisch erzogen.»

«Eine tiger mom?», will ich wissen. Die Jungprofessorin lacht. «Den Begriff habe ich schon einmal gehört. Ich würde es aber nicht so formulieren. Bildung hat dort, wo meine Mutter aufgewachsen ist, einfach einen hohen Stellenwert.»

Vokinger war drei, als sie mit dem Klavierspiel begann. Ein Jahr später kam Ballett hinzu, später Tennis, zwischendurch lernte sie englische Grammatik, um ihre zweite Muttersprache auch schriftlich perfekt zu beherrschen. Die ersten Sonaten hatte sie mit fünf oder sechs Jahren im Repertoire. Als Gymnasiastin spielte sie Klavier und Orgel und verdiente damit ihr Sackgeld. Die Schule rückte zu dieser Zeit in den Hintergrund. Die Kantonsschule Baden schloss sie nicht als Jahrgangs- oder Klassenbeste ab, sondern mit einer Fünf im Schnitt im gehobenen Mittelfeld.

Im Herbst 2007, mit neunzehn Jahren, begann Vokinger, wie sie es immer im Kopf gehabt hatte, mit dem Rechtsstudium an der Universität Zürich. Bald hinterfragte sie ihre Wahl: «Ich merkte, dass Recht und Gerechtigkeit nicht dasselbe sind. Das hat mich extrem mitgenommen.» Sie fing an, sich mit Medizin zu beschäftigen. «Ich dachte damals: ‹Medizin ist so interessant, und man hilft den Menschen. Das wär’s doch.›» Sie schrieb sich für den Numerus Clausus ein, den sie prompt bestand – wie auch das erste Jahr bei den Juristen, bei dem durchschnittlich 50 Prozent der Studenten ausgesiebt werden. Ihr Schnitt: 5,7.

Fortan standen sowohl Medizin- als auch Rechtsfächer auf ihrem Stundenplan, was eigentlich gar nicht erlaubt ist. Die Uni toleriert auf Bachelorstufe kein Doppelstudium. «Ich habe dann», berichtet Vokinger mit einem verschmitzten Unterton, «einen Weg gesucht, um trotzdem zum Ziel zu kommen – so, wie wir das im Rechtsstudium lernen.»

Der Trick nennt sich «Schattenstudium». Vokinger schrieb sich für Medizin ein und machte parallel dazu alle Rechtsprüfungen – «das kontrolliert ja sowieso niemand». Um den Aufwand meistern zu können, gab sie das Klavierspiel auf. Als sehr einschränkend habe sie das Doppelstudium aber nicht empfunden: «Andere lesen als Hobby. Bei mir waren es Rechts- und Medizinbücher. Ich habe das gern gemacht.» Was hat sie angetrieben? «Mein Herz brannte einfach dafür, obwohl...» – Vokinger hält kurz inne – «. . . mein Leben geriet recht durcheinander.»

Immense Schaffenskraft

Das Feuer in ihr, sagt Professor Thomas Gächter am Telefon, habe er sofort bemerkt. Er meldet sich beim Schreibenden trotz dreitägiger Dauersitzung. Er gibt gerne über seine ehemalige Lehrstuhlassistentin und Doktorandin Auskunft. Kennengelernt hat er sie in ihrem zweiten Studienjahr auf einer Seminarreise nach Istanbul. Im Gespräch habe er damals eine «unglaubliche Kraft» gespürt, sagt Gächter, der selbst früh, mit 33 Jahren, Professor wurde. «Während des Seminars war sie aber sehr ruhig, weil sie kurz vorher privat einen Schicksalsschlag erlitten hat.»

Professor Gächter, der damals in der Fakultät für Nachwuchsförderung zuständig war, nahm Vokinger unter seine Fittiche und bot ihr im Rahmen einer wissenschaftlichen Assistenz an seinem Lehrstuhl auch die Möglichkeit für Publikationen. «Es gibt viele gescheite Menschen», sagt er. «Unglaublich ist vor allem ihre immense Schaffenskraft. Ich musste sie eher bremsen. Mir ist es bis heute ein Rätsel, wann sie schläft.» Es kam vor, dass er, wenn er bis tief in die Nacht arbeitete, um drei Uhr morgens postwendend eine Antwort-Mail bekam. Irgendwann – es habe ihn fast aus den Socken gehauen – teilte sie ihm mit, dass sie «übrigens die Anwaltsprüfung bestanden» habe.

Umworben von Harvard

Ich frage Vokinger, wie das genau vor sich gegangen sei mit dem Anwaltsexamen. Sie winkt ab, lacht und erklärt, dass sie damals gerade ihre Dissertation geschrieben, als Anwaltspraktikantin auf einer Kanzlei gearbeitet und noch Medizin studiert habe. «Die Kanzlei» – in der sie zu 100 Prozent angestellt war – «kam mir aber sehr entgegen. Ich durfte die obligatorischen Medizinpraktika besuchen. Am Abend habe ich dann einfach noch ein bisschen gearbeitet.» Auf die Anwaltsprüfung lernte sie einen Monat lang. Das sei wahnsinnig, entgegne ich; andere – auch aus meinem Umfeld – würden ein halbes Jahr lang lernen. «Neeeein», meint Vokinger, «das könnten Sie und Ihre Freunde auch.»

Vokinger arbeitet mit Zielen, sie braucht Druck, um effizient zu sein. Für die Anwaltsprüfung las sie einfach die Bücher und markierte Sätze. Streng sei gewesen, dass sie zwei Wochen nach der mündlichen Anwaltsprüfung die mündliche Pathologieprüfung – die Vorprüfung für das Staatsexamen – absolvieren musste. Ein Fehlversuch wäre nicht drin gewesen, ihr «Plan» wäre dann nicht aufgegangen: Sie wollte, mit damals 26, unbedingt ins Ausland, wie Mentor Gächter es ihr auch empfohlen hatte.

Vokinger bewarb sich bei vier Spitzenuniversitäten und bekam von allen eine Zusage. Sie entschied sich für Harvard, auch weil Urs Gasser, der einzige Schweizer Professor an der Harvard Law School, sich persönlich bei ihr meldete und ihr neben dem Studium eine Forschungstätigkeit an seinem Institut anbot. Vokinger erzählt, sie habe vor allem «Lebenserfahrung» sammeln wollen. Sie erinnert sich auch an Partys und durchwachte Nächte, die sie allerdings nüchtern erlebte. «Ich vertrage keinen Alkohol», sagt sie und geniert sich fast ein wenig. «Ich habe asiatische Gene. Ich hatte das erste Mal ein Glas Wein mit meiner Mutter. Das ging aber nicht, das steigt mirz Chopf

Vokinger schwärmt von ihrer Zeit in Harvard. «Es hat mir so gut gefallen, ich wollte bleiben. Und ich fasste dort den Entschluss, dass ich in die Wissenschaft möchte.» Ihr wurde (was hierzulande mit einer Habilitationsschrift vergleichbar ist) eine Postdoc-Fellowship der Harvard Medical School an der Schnittstelle zwischen Recht und Medizin ermöglicht.

Zu Tränen gerührt

Im April 2019, so steht es in Vokingers Lebenslauf, beendete sie das Postdoktorat-Studium. Nahtlos, ab Mai 2019, begann die Professur an der Universität Zürich für öffentliches Recht, Digitalisierung sowie an der interdisziplinären Schnittstelle zur Medizin. Ihre Habilitation ist sie am Finalisieren.

Als sie nach einem einjährigen Auswahlverfahren zur Professorin berufen wurde, war sie zu Tränen gerührt. An die Worte von Rektor Michael Hengartner erinnert Vokinger sich genau: «Ich freue mich sehr, dass ich der Erste bin, der Ihnen gratulieren darf.» Aus Berlin bestätigt Hengartner, dass er sogleich zum Hörer griff, nachdem der Entscheid festgestanden hatte. Er bezeichnet Vokinger als «totale Bereicherung» für die Universität. Sie sei ein rising star, die Publikationsliste – sechs A4-Seiten mit Arbeiten auf zwei Forschungsgebieten – spreche für sich.

Vokinger nennt es einen Traum, der mit der Professur in Erfüllung gehe. Sie fühle sich äusserst wohl im «sehr, sehr kompetitiven akademischen Umfeld». Ihre Kollegen – bei mehreren hatte sie selber studiert – hätten sie sehr wohlwollend aufgenommen. «Bei vielen ist immer eine Tür für mich offen.»

Dass sie die Jüngste ist, die je Professorin wurde, bezweifelt sie: «Die Ökonomen rekrutieren früher.» Manchmal passiert es ihr trotzdem, dass sie für eine Studentin gehalten wird. Im «Uniturm» etwa, dem Restaurant für Professoren und Oberassistenten, ist sie schon gefragt worden, wessen Professors Begleitung sie sei. Vokinger empfindet das nicht als Böswilligkeit. «Auch auf dem Gang werde ich geduzt – von Studenten sowieso. Ich finde das ganz okay», sagt sie, worauf auch wir, nach über zwei Stunden Gespräch, zum Du wechseln.

Previous
Previous

Die Schweiz erinnert sie an Amerika

Next
Next

Aus allen Lagen, in höchstem Tempo