Die Schweiz erinnert sie an Amerika

Anfang Februar übernimmt Gabriele Siegert, 56, die Leitung der grössten Schweizer Hochschule. Sie werde bloss Interimsrektorin, betont sie. Wirklich?

Veröffentlicht in Die Weltwoche, 29. Januar 2020

Bild: Nathan Beck.

Bild: Nathan Beck.

In der Öffentlichkeit ist die Frau noch kaum bekannt: «Prorektorat» steht neben der Türglocke am Hirschengraben, und im Büro wartet sie bereits, Gabriele Siegert, 56-jährig. Die Kommunikationsprofessorin schmückt sich zusätzlich mit dem Titel «Vizerektorin». Hinter Siegert, die am runden Sitzungstisch Platz genommen hat, sticht ein Bild ins Auge. Neben ihrem Schreibtisch liegt ein anthrazitfarbener Gymnastikball gegen Rückenprobleme. Genutzt wird er nicht. Weil sie zu klein sei, lautet ihre Begründung.

Definitiv nicht klein ist Siegert, wenn man die künftige Hackordnung der Universität Zürich betrachtet. In wenigen Tagen wird sie ins Hauptgebäude hoch zügeln, wo sie sich im Rektorenzimmer einrichten wird. Nach sechs Jahren gibt der Biologieprofessor Michael Hengartner seinen Schlüssel ab. Er verlässt die Universitätsleitung und wechselt als Ratspräsident an die Eidgenössische Technische Hochschule. Damit wird Siegert in eines der anspruchsvollsten und interessantesten Ämter im schweizerischen Bildungswesen nachrücken. Sie wird mit der Universität Zürich die grösste Hochschule des Landes führen und für insgesamt 9000 Angestellte verantwortlich sein – «interimistisch», wohlgemerkt.

Aber was geschieht nach der Übergangszeit? Es sei «absolut» Zeit für eine Frau, sagte Hengartner jüngst in einem Interview mit der NZZ. Tatsächlich hatte die Universität Zürich in ihrer bald 200-jährigen Geschichte nur eine Rektorin. Derzeit ist eine Kommission damit beschäftigt, Kandidatinnen und Kandidaten für den prestigeträchtigen Posten zu finden. Ob sich Siegert langfristig im Rektorenbüro einnisten wird? Dass sie für die Nachfolge eine aussichtsreiche Position einnimmt, ist kein Geheimnis.

Andere Sitten

Die Frau, die ihr Büro nur ein paar Dutzend Meter Luftlinie verschiebt, ist in ihrem Leben ziemlich weit herumgekommen. Aufgewachsen ist Siegert in Augsburg, wo sie auch studierte; die Habilitation erfolgte in Salzburg; seit zwanzig Jahren lebt sie mit ihrem Mann in Zürich. Aber nicht nur ihre Wohnsitzländer haben sich geändert, auch die Zeiten sind nicht mehr dieselben. Siegert erzählt von ihrer ersten Mikroökonomie-Vorlesung in Augsburg, etwa 450 Studierende im Hörsaal, davon 40 Prozent Frauen. «Einleitend sagte der Professor: ‹Die Frauen, die hier sind, sind umsonst hier. Die gehen danach doch nur nach Hause und kriegen Kinder.›»

Siegert, die kinderlos ist, kann sich noch heute darüber empören. Gleichzeitig ist klar, dass an den Universitäten inzwischen andere Sitten herrschen. Siegert selber hat sich dafür eingesetzt, diesen Kulturwandel mitzugestalten, in Arbeitsgruppen wie «Professorinnen in Leitungs- und Entscheidungsgremien» oder «Verhaltenskodex Gender Policy». Wichtig sei ihr, dass niemand mehr wegen irgendeines Merkmals – Geschlecht, Hautfarbe, Religion oder sonst was – benachteiligt werde. «Es muss um Leistung gehen.»

Tabuthemen?

Es sind nicht nur die Geschlechterfragen, die beschäftigen, sondern auch Umweltthemen. An der Universität gibt es etwa eine vegane Mensa, ebenso einen Nachhaltigkeitsdelegierten, was Siegert befürwortet: «Grosse Organisationen sehen sich gesellschaftlichen Erwartungen gegenüber, die adressiert werden müssten.» Auch die Uni soll und will ihren Beitrag leisten.

Inwieweit die Wissenschaft von solchen Nachhaltigkeitsbestrebungen betroffen ist, ob es Einschränkungen oder Tabuthemen gibt – Siegert winkt sofort ab: «Es gibt keine inhaltlichen Vorgaben, die Professoren und der Wissenschaftsmarkt entscheiden.» Darf wirklich zu allem geforscht werden? Was wäre, rein hypothetisch, wenn herauskäme, dass alte weisse Männer dümmere Menschen seien? Oder Schwarze, oder Frauen? Wie ist es mit Gegenthesen zum menschengemachten Klimawandel? Siegert zögert keine Sekunde: «Ja, Sie dürfen über alles forschen, das ist genau der Punkt – da wird nichts eingeschränkt.» Die Erkenntnisse müssten aber überprüfbar sein.

Freiheit, Eigenverantwortung, kein überbordender Staat – das schätze sie, sagt Siegert. «Die Schweiz erinnert mich da an Amerika.» Was aber ist mit den gegenwärtigen Beschränkungen der Meinungsfreiheit, wie sie an nordamerikanischen Universitäten vorkommen? Kritisch demonstrieren, seinen Protest kundtun, das sei ein legitimes Mittel, findet Siegert. Einen Auftritt und damit eine Debatte verhindern sei hingegen fast immer schlecht, ob es nun linke oder rechte Positionen betreffe.

Einen Vorfall wie kürzlich in Hamburg, als der Ökonomieprofessor und AfD-Mitgründer Bernd Lucke aus einem Vorlesungssaal vertrieben wurde, wolle sie in Zürich unbedingt verhindern. Wo liegen ihre persönlichen Grenzen? «Bei antisemitischen Parolen und Verstössen gegen die Verfassung», antwortet Siegert. Einen Holocaustleugner oder antisemitischen Verschwörungstheoretiker würde sie an der Universität nicht auftreten lassen.

Dass es in der Schweiz ruhiger zugeht als in Deutschland, erklärt sich Siegert mit Mentalitätsunterschieden. Die Schweizer seien eben, entgegen der Vorstellung vieler Deutscher, nicht bloss der ähnliche kleine Nachbar. «Mir war immer klar, dass ich ins Ausland gehe», erinnert sie sich. Die direkte Demokratie findet sie «klasse, ganz toll». Dies habe auch den Ausschlag gegeben, weshalb sie sich vor sechs Jahren erfolgreich für die Staatsbürgerschaft bewarb. Wieder in Deutschland zu leben, könne sie sich nur schwer vorstellen.

 Reisen und Repräsentation

Wenn sie sieht, wie die EU und auch Deutschland die Schweiz unter Druck setzen, findet Siegert das «bedauerlich, aber verständlich». Dass die Schweiz an ihrem politischen System festhalten möchte, sei nur klar, «während die EU natürlich auch nicht will, dass die Schweiz nur Rosinen pickt». Wichtig sei für sie, dass der europäische Wissenschaftsmarkt für die Schweiz offen bleibe. «Europa ist einfach unser grösster Handelspartner. Das bildet sich auch in der Wissenschaft ab.»

Ebenso mahnen namhafte Hochschulvertreter, dass ein Nein zum Rahmenabkommen den Bildungsstandort schwächen würde, weil die Forschungskooperation «Horizon» mit Europa wegfiele. Hundert Milliarden sind es, die zwischen 2021 und 2027 für Forschung und Innovation verteilt werden. Die Schweiz würde davon profitieren, betont Siegert. Sie ist zuversichtlich, dass man alles verhandeln könne. Weil der Forschungsstandort Schweiz gut unterwegs sei, «können wir selbstbewusst gegenüber der EU auftreten», sagt sie.

Wie ist das zu interpretieren? Wird sich Siegert künftig in die politischen Diskussionen einmischen? Vielleicht sogar langfristig als Rektorin? Siegert lächelt freundlich. «Ich habe mich nicht beworben.» Warum nicht? Siegert antwortet ausweichend: «Ein Nein bedeutet auch immer ein Ja zu etwas anderem. Und ich bin gerne Vizerektorin und Prorektorin Lehre und Studium.» Ob sie sich die Aufgabe nicht zutraue? Ob ihr vielleicht eine gewisse Unerschrockenheit fehle? Siegert schmunzelt erneut. «Man will sich ja nicht selber loben. Ich kann schon gut führen, bin strukturiert. Und ich würde meinen, ich bin ein unerschrockener Mensch.»

Als Grund für den Verzicht nennt sie die Dossiers: «Der Rektor ist auch für alles Internationale und für Repräsentationsaufgaben zuständig, muss viel reisen, das liegt mir weniger.» Einfach gemacht habe sie sich den Verzicht nicht, betont sie. Und als wollte sie sicherstellen, dass man nicht auf die Idee komme, sie leide an mangelndem Selbstbewusstsein, fügt sie an: «Mein Mann würde sagen, die Uni habe Pech, dass ich’s nicht mache.»

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