«So sind sie, die Deutschen»
Urs Fischer, 56, ist der aktuell erfolgreichste Schweizer Klubtrainer. Ein realistisches Gespräch über Fussballer und Führung.
Veröffentlich in: Die Weltwoche, 16. April 2022.
Es waren zwei Welten, die am Samstag im Berliner Olympiastadion aufeinanderprallten: Hertha BSC empfing den 1. FC Union Berlin zum Hauptstadtderby. West gegen Ost. Blau-Weiss gegen Rot-Weiss. «Alte Dame» gegen «Eisern Union». Eine Frage der Ehre: Wem gehört die Stadt? Der abstiegsgefährdeten Hertha, dem über Jahre erfolgreichsten Berliner Fussballverein? Oder dem Underdog aus Köpenick, ohne Stars und Glam, dafür mit Chancen auf einen Top-Platz in der Meisterschaft und auf das Pokalfinale?
Erstmals seit zwei Jahren hatten die Behörden alle Ränge im Stadion freigegeben, und das erst noch für ein Derby: ausverkauftes Haus, grandiose Stimmung. Die 75 000 Zuschauer standen neunzig Minuten lang und sangen und feierten – zumindest die Union-Fans unter ihnen. Endresultat: 1:4. Triumph der Gäste. Rote Fackeln brannten lichterloh.
Mittendrin im Taumel: Trainer Urs Fischer, ein Schweizer, einst beinharter Innenverteidiger des FC Zürich, wo er auch seine Trainerkarriere lancierte. Später wechselte er nach Thun und von dort nach Basel, wurde von 2015 bis 2017 zweimal Schweizer Meister und einmal Cupsieger und trotzdem dauernd kritisiert. Der Funke sprang nicht zwischen dem glamourösen Serienmeister Basel und Urs Fischer, dem Büezer aus Zürich-Affoltern.
Besser passt’s beim 1. FC Union Berlin, einem Arbeiterverein, dessen Fans das noch immer rustikale «Stadion An der Alten Försterei» einst eigenhändig renovierten. Hier, wo wir ihn zum Gespräch treffen, ist er seit 2018 schlicht «der Trainer». Ehrfurcht klingt mit in dieser Bezeichnung, denn die Zusammenarbeit ist eine Erfolgsgeschichte ohne Ende.
Gleich in Fischers erster Saison stieg Union in die 1. Bundesliga auf, etablierte sich in der Folge in der obersten Spielklasse und schnuppert jetzt am internationalen Geschäft. Köpenick träumt von der Champions League. Die Berliner Zeitung feiert Fischer als «besten Trainer der Bundesliga». Er selber versucht, die neuen Ansprüche, so gut es irgendwie geht, im Zaum zu halten.
Weltwoche: Herr Fischer, Glückwunsch, Sie überraschen mit dem 1. FC Union Berlin alle. Sie sind die Nummer eins in Berlin, liebäugelten zwischenzeitlich mit dem vierten Tabellenplatz und stehen zurzeit im deutschen Pokal-Halbfinale. Was machen Sie richtig? Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?
Urs Fischer: Also, bevor wir abheben: Geschichte wird erst nach dem Ereignis geschrieben, nicht während. Und die Zielsetzung war immer der Klassenerhalt. Wir spielen ja erst im dritten Jahr in der ersten Liga.
Weltwoche: In Deutschland spricht man von der magischen Vierzig-Punkte-Grenze, um nicht abzusteigen. Sie liegen in der Tabelle auf Rang 7 in der Tabelle, mit 44 Punkten.
Fischer: Schauen Sie, wir sind nicht Bayern, nicht Dortmund, nicht Leverkusen. Wir sind Union – ohne uns kleiner zu machen, als wir sind. Aber die Grundlage für alles ist und bleibt der Ligaerhalt, nun dürfen wir uns langsam aber sicher umorientieren. Jetzt geht es darum, so viele Punkte wie möglich zu holen. Aber alles andere hätte nichts mit der Realität zu tun, zumindest nicht mit meiner.
Weltwoche: Sie begannen in Berlin 2018. Wie haben Sie Deutschland seither kennengelernt?
Fischer: Sehr direkt.
Weltwoche: Wie meinen Sie das?
Fischer: Auf jeden Fall positiv! In der Schweiz war es ein Nachteil, direkt zu sein. Das musste ich mir das eine oder andere Mal anhören. In der Schweiz versucht man, seinen Standpunkt immer etwas zu umschreiben, auch wenn es klar und deutlich ginge und man sagen müsste, wie’s ist. Es gilt, ja niemanden zu kränken. Das ist in Deutschland anders. Hier spricht man an, was angesprochen werden muss. Und man hält etwas aus. Es war wohltuend, aber auch überraschend, mit welcher Wucht die Leute hier direkt sind. Aber so sind sie, die Deutschen.
Weltwoche: Gibt es eine Schweizer Eigenheit, etwas Schweizerisches, das Sie vermissen?
Fischer: Nicht wirklich. Ich habe mein Raclette, mein Käsefondue, auch das Fondue chinoise. Das Einzige, was ich in Berlin nicht habe, sind Berge. Dafür haufenweise Wasser, und grün ist es in Köpenick. Aber damit wir uns verstehen: Ich bewege mich zwischen Wohnung, Stadion, Spiel. Mehr nicht.
Weltwoche: Und Berlin, wie haben Sie die Bundeshauptstadt kennengelernt?
Fischer: Ich sah ein bisschen etwas von der Stadt – Brandenburger Tor, Holocaust-Denkmal, die Universitäten, Museen. Aber diese Stadt ist so gross – das ist vielleicht der zweite Punkt: Ich komme von Züri. Ich hatte immer das Gefühl: «Wow, ich komme aus einer Grossstadt», bis ich nach Berlin kam. Im Verhältnis sind das 400 000 gegenüber rund 4 Millionen Einwohnern. Berlin, diese Stadt ist riesig. Riesig! Ich dachte, ich kenne dieses Feeling, aber nein, kannte ich nicht. Stellen Sie sich vor, ich brauchte von mir bis zum alten Flughafen Tegel schon eine Dreiviertelstunde – für 23 Kilometer.
Weltwoche: Was schätzen Sie an den Berlinern?
Fischer: Sie sind nicht gross anders. Dieses Multikulti finde ich auch in Zürich.
Weltwoche: Wonach sehnen Sie sich, wenn Sie an Zürich denken?
Fischer: Zürich ist meine Heimat, mein Daheim, mein Wohnzimmer. Ich muss nicht umschreiben, was ich da vermisse.
Weltwoche: Sie scheinen sich hier trotzdem wohl zu fühlen, zumindest lieben Sie die Fans, Sie sind ein Publikumsliebling. Wie war es möglich, sich so schnell mit dem Klub zu identifizieren?
Fischer: Man identifiziert sich doch immer mit seinem Arbeitgeber, das ist in jedem Geschäft so. Wer das nicht kann, dem fehlt die Leidenschaft. Sonst macht man Dienst nach Vorschrift – auch möglich, aber das entspricht nicht meinem Naturell. Wo bliebe da der Spass? Freude ist schon ein Punkt, der berücksichtigt werden muss. Und die ist da bei mir.
Weltwoche: Hängt Freude mit Erfolg zusammen?
Fischer: Nicht nur, aber Freude macht viel aus. Nicht nur im Sport. Ich habe damals das KV absolviert, eine Banklehre, als ich bereits beim FCZ spielte. In meiner Aktivzeit als Spieler arbeitete ich 50 Prozent. Ich war überall genau gleich investiert, egal, was ich tat. Nur musste ich mir irgendwann eingestehen, dass ich nicht auf allen Hochzeiten mit hundertprozentiger Leidenschaft gleichzeitig tanzen kann. Also ging es mir als Trainer gleich wie als Spieler, es bewegte sich zum Profitum.
Weltwoche: Erzählen Sie von jener Zeit, als Sie nebenberuflich Fussball spielten.
Fischer: Das war eine andere Zeit. Damals, in den Achtzigern, war das möglich, obwohl es schon Profis gab. Als ich in die 1. Mannschaft des FCZ kam, hatte ich viel Zeit nebenbei. Ich wollte sie nutzen, als Ausgleich, um einen geregelten Tagesablauf zu haben. Hinzu kam, dass ich als junger Spieler nicht gerade viel verdiente, es war ein Zustupf. Irgendwann sah ich, dass es mir keine Vorteile mehr bringt, sondern nur Extrabelastung.
Weltwoche: Wenn Sie das mit den heutigen Primadonnen vergleichen: Haben Sie nicht das Gefühl, Fussballer sind total verwöhnt?
Fischer: Überhaupt nicht! Wieso auch? Was die Spieler leisten, ist Wahnsinn! In welchem Rhythmus, mit welcher Intensität die Spiele stattfinden. Das braucht Regeneration, Schlaf, gute Ernährung. Kein Alkohol, nicht rauchen – alles, was wir durften, ist heute undenkbar. Wir durften noch leben, Seich machen. Heute zückt jeder das Handy, alles steht in der Zeitung. Ich weiss nicht, ob ich heute Spieler sein wollte. Zum Glück stellt sich die Frage nicht.
Weltwoche: Also nichts mit dem Klischee der verwöhnten Fussballstars, die in der Freizeit Playstation spielen, in teuren Autos rumfahren und Markenklamotten tragen.
Fischer: Wer sagt denn so was? Haben Sie sich mal vorgestellt, einen Monat lang Fussballer zu sein? Zu verzichten? Das Argument, das dann halt immer kommt, ist das Geld . . .
Weltwoche: Stimmt. Wie denken Sie darüber?
Fischer: Es geht um Angebot und Nachfrage – wie in jedem anderen Markt, ganz einfach. Ob das jetzt gut oder schlecht ist, diesen Moralapostel spiele ich nicht. Wenn jemand etwas anbietet, dann ist es doch völlig okay, wenn der andere dazu ja sagt. Das gilt für Spieler und Trainer.
Weltwoche: Was zeichnet Sie als Trainer aus?
Fischer: Für diese Frage bin ich der Falsche.
Weltwoche: Dann anders: Was braucht es, um als Trainer erfolgreich zu sein?
Fischer: Das muss jeder für sich entscheiden, ich gebe keine Ratschläge. Wichtig ist sicher, mit der Zeit zu gehen. Als Spieler erlebte ich eine Zeit, da war es so und nicht anders. Aber Fakt ist, heute ist der Fussball anders, die Spieler, die Gespräche haben sich verändert. Wenn wir ein Videostudium hatten, schob der Trainer eine richtige Videokassette rein, und wir schauten uns neunzig Minuten lang einen Match an, ohne Mucks. Heute haben wir Spielanalysen, auf einzelne Spieler zugeschnitten. Diesen Fortschritt musst du mitmachen.
Weltwoche: Um nicht den Anschluss zu verlieren.
Fischer: Gewisse Methoden kann man schon beibehalten, wenn man sie für richtig hält. Old-school und new-school heisst nicht: Das eine ist richtig, das andere falsch.
Weltwoche: Gibt es einen Coach von früher, der Sie inspirierte?
Fischer: Ich hatte Trainer, die waren old-, old-, old-school. Da hiess es: «Es war immer so, also ist es nach wie vor so.» Ich hatte aber auch solche, die Neues probierten. Das wäre heute eher meine Präferenz. Ich glaube, man muss aktuell sein, mehr als zu meiner Spielzeit.
Weltwoche: Welcher Trainer ist heute das Mass aller Dinge?
Fischer: Darüber mache ich mir keine Gedanken.
Weltwoche: Gibt es jemanden, den Sie gut finden?
Fischer: Klar, haufenweise.
Weltwoche: Zum Beispiel?
Fischer: Das spielt doch keinen Tango. Ich könnte Steffen Baumgart nehmen, vom 1. FC Köln. Oder jeden in der ersten Bundesliga, man kann von jedem etwas lernen. Nur beschränkt sich das auf das, was man von aussen wahrnimmt. Die tägliche Arbeit sehe ich nicht, wie er mit den Spielern umgeht. Ich war mal bei Dieter Hecking, damals Trainer von Borussia Möchengladbach. Hochinteressant, wie er seine Leute managt. Aber am Schluss darfst du nicht kopieren, sondern musst authentisch sein, nicht irgendeine Rolle spielen, die man gar nicht spielen kann. Darum ist mir egal, welcher Trainer der beste der Welt ist. Ob es jetzt Pep Guardiola ist, der akribisch arbeitet, auch im Training. Solche Typen sind alle top. Top!
Weltwoche: Wie finden Sie Jürgen Klopp, den deutschen Trainer des FC Liverpool?
Fischer: Puh, diese Kraft, diese Energie. Der gumpt an der Seitenlinie auf und ab. Wahnsinn! Aber ich könnte das nicht, das wäre nicht ich. Ich versuche, ruhig zu sein, das habe ich mir geschworen. Als Spieler habe ich es gehasst, wenn meine Trainer ständig rumsprangen und reinriefen. Ich sagte mir: «So wirst du nicht!» Das hat aber mehr mit meinen Erfahrungen zu tun, nicht mit «gut» oder «schlecht».
Weltwoche: Worauf gründet Klopps Erfolg? Was zeichnet ihn aus?
Fischer: Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ständig so ist wie an der Seitenlinie – im Spiel schon. Vielleicht ist es das Entscheidende, dass es nicht gespielt ist. Er lebt, was er macht.
Weltwoche: Murat Yakin ist seit kurzem Schweizer Nationaltrainer. Viele Schweizer hätten sich aber Sie als Nachfolger von Vladimir Petkovic gewünscht. Was bedeutet Ihnen dieses Bekenntnis?
Fischer: Natürlich macht mich das stolz – wer hätte dieses Schulterklopfen nicht gerne?
Weltwoche: Der Job als Nati-Trainer: Ist das ein Traum von Ihnen?
Fischer: Sag nie nie. Aber momentan gefällt mir die tägliche Arbeit mit einer Mannschaft.
Weltwoche: Wie lautet Ihr wichtigstes Prinzip im Umgang mit hochsensiblen Fussball-Millionären?
Fischer: Es gibt nicht ein Prinzip. Ich glaube, heutzutage müssen Trainer Empathie haben. Was noch lange nicht heisst, dass man dann Erfolg hat. Es liegt sicher nicht nur daran, einen Kader mit dreissig Spielern und verschiedenen Nationalitäten erfolgreich zu führen. Beim Thema Führung kommt vieles zusammen.
Weltwoche: Worauf kommt es an?
Fischer: Man sollte von der Materie eine Ahnung haben. Von Fussball, der Trainingslehre, wie man eine Übung, eine Spielsituation vermittelt. Und, und, und. Es sind so viele Punkte, die einfliessen.
Weltwoche: Welches ist der wichtigste?
Fischer: Man muss den Zugang zum Menschen finden. Das gelingt nicht immer.
Weltwoche: Wie streng müssen Trainer sein?
Fischer: Wenn notwendig, streng. Ich meine, ich kann ja unmöglich lieb sein, wenn es nicht angebracht ist.
Weltwoche: Was würden Ihre Spieler sagen, wie streng ist Urs Fischer?
Fischer: Da müssen Sie meine Spieler fragen. Aber ich kann definitiv sagen, wenn mir etwas nicht passt – hoffentlich auch! Mir geht es dann nie um die Person, sondern um die Sache, um den Fussball, das wissen die Spieler.
Weltwoche: Sentimentalitäten weg. Was zählt, ist der Erfolg auf dem Platz.
Fischer: So schlimm ist es nicht. Die Methode, der Ton sind genauso entscheidend. Man kann nicht die ganze Zeit rumschreien. Mir geht es um die Kritik, wenn sie angebracht ist.
Weltwoche: Sind Sie als Teamchef eher Psychologe oder Stratege?
Fischer: Es wird ein Mix sein. Klar braucht man eine Spielstrategie. Entscheidend ist aber auch die Erfahrung, eine Situation erlebt zu haben, um mit den Spielern richtig umzugehen.
Weltwoche: Was machen Sie, wenn es intern kracht oder nicht läuft? Wie drehen Sie die negative Stimmung ins Positive?
Fischer: Habe ich dafür einen Plan? Nein, weil es den nicht gibt. Wie viele Mannschaften kämpfen im Tabellenkeller, stecken in der Abwärtsspirale? Dagegen gibt es kein Patentrezept. Sonst würden wir es alle anwenden. Eines ist klar: Man muss mit aller Kraft versuchen, das Steuer herumzureissen. Irgendwie und immer wieder.
Weltwoche: Bevor Sie zu Union kamen, trainierten Sie den damaligen Schweizer Serienmeister FC Basel. Was ist einfacher: mit einem Topteam gewinnen zu müssen oder mit einem Underdog gewinnen zu dürfen?
Fischer: Beides hat seine Schwierigkeit, einfach ist nichts! Man hat gesehen, wie vermeintlich einfach es ist, mit Basel Meister zu werden, auch mit dem besten Kader der Liga.
Weltwoche: Viele mäkelten über und kritisierten Ihre Leistung, obwohl Sie Meister wurden. Was sind die grössten Fake News über Urs Fischer, die Sie über sich gelesen haben?
Fischer: Das habe ich doch nicht auswendig im Kopf. (Lacht)
Weltwoche: Eine Schlagzeile, die Ihnen blieb?
Fischer: Ich lese nicht viel, was über mich geschrieben wird. Man gewöhnt sich daran, es ist ein Teil des Geschäfts. Das ist auch gut so, das macht den Fussball so spannend. Von da kommen die Emotionen.
Weltwoche: Es gibt Leute, die leeren in solchen Situationen den Briefkasten nicht mehr. Wie ist das bei Ihnen?
Fischer: So schlimm ist es nicht. Aber Basel, diese zwei Jahre, das kostete Energie. Die Berichterstattung war schon sehr negativ. Das musste ich erst kennenlernen, aushalten. Daraus gewinnt man an Erfahrung, auch wenn es nicht einfach ist.
Weltwoche: Was interessiert Sie ausserhalb des Fussballs?
Fischer: Fischen! Mein grösstes Hobby, das mache ich, wenn immer ich Zeit habe, überall.
Weltwoche: Was fasziniert Sie daran?
Fischer: Das völlige Runterfahren. Es ist mein Ausgleich, in der Natur zu sein, im Wasser zu stehen. Ohne Gedanken an Fussball.