Leben im Flugmodus
Ein Like hier, ein Post dort: Die Handy-Generation ist versessen auf die sozialen Medien. Sie interagiert pausenlos. Multimedial überfordert fühlt sie sich nicht, ebensowenig krankhaft süchtig.
Veröffentlicht in Die Weltwoche, 24. Oktober 2018
Fremd seien ihm Printmedien, genau wie ein Leben ohne Internet; digitale Zeitungen lese er nicht. Höchstens auf Gratis-Apps klickt Cyrill, 21, angehender Start-up-Marketingverantwortlicher, dann und wann und scrollt oberflächlich durch die Nachrichten. Auf Facebook habe er den Blick, 20 Minuten, die NZZ und andere abonniert, die ihn mit Neuigkeiten bombardierten. Die Artikel studiere er eigentlich nie, «die stören eher», meint Cyrill. Die wichtigen Schlagzeilen picke er auf: «Trump kenne ich, der ist ja schliesslich überall.» Lieber seien ihm Unterhaltungsvideos, humorvolle Fotos, die ihn zum Lachen bringen. Darüber spreche er auch mit seinen Freunden.
Wie steht es mit seiner politischen Beteiligung? «Was? Abstimmungen? Nein, da kenne ich mich zu wenig aus», sagt Cyrill. Er sei diesbezüglich ein schlechtes Beispiel, erst einmal habe er abgestimmt. Für seine eidgenössische Wahlpremiere 2019 könne er nichts versprechen. Warum? «Uff. Keine Ahnung!», seufzt er. «Wie gesagt, ich bin wohl nicht repräsentativ, wenn es um solche Themen geht.»
Kreuzfalsch. Cyrill ist nicht alleine. Jetzt, 2018, sei der Wert der «News-Deprivierten» unter den 16- bis 29-Jährigen auf einem Rekordhoch. 53 Prozent dieser Jugendlichen konsumierten News nur sporadisch und zumeist solche von minderer Qualität – substanziell über die Plattformen der Tech-Intermediäre wie Facebook oder Instagram. So steht es im soeben erschienenen «Jahrbuch Qualität der Medien» des Forschungsinstituts Öffentlichkeit und Gesellschaft. Weiter signifikant: Die durchschnittliche Stimmbeteiligung für 18- bis 25-Jährige liege bei rund einem Drittel, wie ein Beitrag des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Bern 2014 ergab. Das ist der tiefste Wert aller Altersgruppen.
Zwei Stunden Youtube
Diese Jugendlichen bezeichnet Jean M. Twenge in ihrem im Mai erschienenen Buch «Me, My Selfie and I» als «Generation Selfie». Sie meint die Jahrgänge 1995 aufwärts, die seit der Kinderstube einen treuen Begleiter haben: das Handy. Ihre bevorzugte Anwendung ist seit der Schulzeit die Foto-Plattform Instagram. Sie kennen das Leben gar nicht mehr ohne sie. Dort posten sie Bilder, Videos oder Live-Schaltungen – vorwiegend von sich, Selfies halt. Sie präsentieren sich optimal abgelichtet und fischen nach Likes.
Was interessiert diese Selfie-Generation? In erster Linie schicken sie einander Videos, wo Hundewelpen herumtollen oder eine Katze zum Klavierspiel ansetzt. Mit «Jööö», «Haha» oder einem gelben Emoji bestätigen sie demjenigen auf der anderen Seite der Leitung, dass die Botschaft angekommen ist. Cyrill sagt, dass ihn diese Form von Unterhaltung weit mehr beschäftige als ernsthaftere Themen.
Was meinen andere Jugendliche? Fiona, 19, Geografiestudentin, sagt: «Kei Aanig.» Zeitungen lese sie nicht. Sie vertreibe ihre Zeit vor allem mit endlosen Youtube-Filmchen. «Ich verbringe locker zwei Stunden pro Tag auf der Video-Website.» Ein Film nach dem andern. «Es kommt immer ein nächster, der mich interessiert.» Meist gehe es um reine Unterhaltung, so Fiona. Gemeint seien etwa Ausschnitte von «Germany’s Next Topmodel», wo Heidi Klum seit 2006 das hübscheste Mädchen kürt.
Kardashians statt AfD
Ähnlich verläuft der Medienkonsum von Harriet, 18, die gerade ihrer Maturarbeit den letzten Schliff verpasst: «Ich ertappe mich oft dabei, wie ich minutenlang auf Instagram Explorer herumlungere.» Instagram Explorer, das Erkundungszentrum von Instagram, sei gleich konzipiert wie Youtube und zeige Videos und Bilder, die aufgrund der persönlichen Interessen auftauchen. Die Clips von Komiker Stefan Büsser und seinen parodierten Highlights der TV-Sendung «Bachelorette» seien eine Zeitlang ein grosser Renner gewesen. «Sauglatt», findet Harriet. Veronique, 21, Medizinstudentin, kann sich bei Beiträgen von Reise-Influencern, den neuartigen Reisevermarktern in den sozialen Medien, fast nicht von ihrem Handy und Instagram losreissen. «Prokrastination», das tagträumende Aufschieben von Pendenzen, nennt sie die flimmernde Ablenkung.
Und was ist mit Nachrichten? «Die Themen in den Zeitungen entsprechen zu wenig meinen Interessen», so Harriet. Sie tanzt Ballett, leitet Pfadilager und macht Musik. «Zwar habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich im Nachhinein an die Unmenge der verblödenden Posts denke.» Sie hätte mit der vergeudeten Zeit sicher Besseres anfangen können.
Claudine, 20, Studentin der Populären Kulturen, befriedige online hauptsächlich eigene Interessen. Dass sie mehr über die Kardashians wisse als über die Selbstbestimmungsinitiative, sei ihr egal. «Was ist die AfD?», fragt sie. Ihr Fokus liege auf dem Studium, nicht auf der Politik. Sie brauche nicht zusätzliche Informationen, die sie nicht beträfen und nur ihren Kopf füllten. Sie zeigt die Startseite ihres Bildschirms mit lauter Tanzvideos. «Siehst du, Beyoncé.» Viele Kolleginnen hätten sogar ein zweites Instagram-Profil. Es nenne sich «Friendsta». Dort teilten sie «wirklich persönliche Erfahrungen» – und verbreiten so nicht alles an unbekannte Follower. Selbst postet sie nicht Bilder im Übermass. Likes seien ihr nicht wichtig. Durchschnittlich ergattere sie 180 davon. Bilder, die mit nur 140 Likes bewertet werden, hinterfrage sie zwar, lösche aber keines, wie dies einige ihrer Bekannten täten.
Natürlich habe sie auch Freunde, die sich in der Politik engagierten und sogar an Demos gehen würden, sagt Claudine. Der Grossteil ihres Umfelds beschäftige sich aber lieber mit den alltäglichen Dingen des Lebens – sie meint das Handy und die Inhalte, die sie auf Instagram teilen. Die angehende Medizinerin Veronique schildert Ähnliches. Sie hofft, dass sich die Lage mit ihrem Auszug aus dem Elternhaus verbessert: «Dann bin ich gezwungen, mich selbst mit den gesellschaftsrelevanten Themen zu befassen.» Heute sei sie wohlbehütet im Elternnest. Ihr Vater nehme sich Zeit und kläre sie vor den Abstimmungen auf. «Ich stimme dann selbst ab», betont sie.
Ob sich Claudine und Veronique neben dem permanenten Chatten, Posten, Taggen überhaupt noch konzentrieren können? «Natürlich», geben die jungen Damen zu verstehen. Im Unterricht sei das Handy lautlos, beim Lernen klickten sie auf das Flugzeug-Symbol. Dann seien sie total fokussiert. Die Option «Flugmodus» setzten sie auch am Abend ein. Es könne aber durchaus vorkommen, dass das Handy trotzdem unter dem Kissen hervorgenommen werde, um zu schauen, ob auch ja der Wecker gestellt sei. Ein Spiel mit dem Feuer, könne es doch schnell vorkommen, dass sogleich wieder eine Stunde Schlaf zugunsten von Social Media draufgehe.
Informativer Militärstreich
Wie steht es um die Stimmbeteiligung anderer aus der Selfie-Generation? Alma, 18, Maturandin, bezeichnet sich selbst als politisch interessiert. Zur Urne sei sie seit ihrer erst kürzlich erlangten Stimmberechtigung aber noch nicht gegangen. Zu abstrakt seien die Vorlagen, obwohl sie am stärksten betroffen sei: «Ich muss von allen am längsten mit den Konsequenzen leben.»
Was die Annahme oder Ablehnung einer Initiative bedeutet, könne sie nicht wirklich abschätzen. Sie beschäftige sich daher gar nicht erst intensiver damit. Als Interessen kommen ihr die kurzen, knackigen Videos in den Sinn, die aufpoppen, wenn sie ihre Freunde darunter taggen. Die regen punktuell zum Nachdenken an, unterhalten aber grossteils. Sie nennt die Kurz-Clips von Izzy Magazine, Radio Energy oder Watson. «Als Super-Cedi, der Star des Online-Mediums Izzy Magazine, einen Armeemajor mimt und so die Soldaten veralbert», berichtet Alma – «das war zum Totlachen und offenbarte die Schwächen des Militärs.»
Erreichbar sind sie, diese Jungen: Sie surfen im Internet, sind vernetzt und interagieren pausenlos. Cyrill, Fiona, Harriet, Veronique, Claudine und Alma finden das effizient – für offene Fragen finden sie sofort Antworten. Multimedial überfordert fühlen sie sich nicht, ebensowenig krankhaft süchtig. Kein Grund zur Sorge also.
Georg Lutz, Direktor des Schweizer Kompetenzzentrum für Sozialwissenschaften (Fors), bestätigt, dass die direktdemokratische Beteiligung der jüngsten Stimm- und Wahlberechtigten gegenüber altersweiseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern seit je konstant tiefer sei. Nicht nur die Jugendlichen der Selfie-Generation haben breitgefächerte Interessen. Auch ohne Instagram.