Geduldiger Büezer

Christian Fassnacht begeistert mit YB national und international. Vor sieben Jahren begrenzte sich sein Radius noch auf die Zürcher Coca-Cola Junior League. Bei FC Red Star war ich sein Teamkollege.

Veröffentlicht in Die Weltwoche, 3. Oktober 2018

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Bild: Nathan Beck.

Ich sitze auf der Reservebank des FC Thalwil. Die Sonne blendet. Neben mir Christian Fassnacht, ein Freund aus der Jugend, gertenschlank, spektakulär gestylt mit mehreren Fingerringen, gezupften Augenbrauen. Die Schweizer Version von Justin Bieber. Den Thalwiler Sportplatz kennen wir, sowohl den Rasen als auch das «Bänkli», obwohl wir vorwiegend zur startenden Elf der A-Junioren des FC Red Star gehören. Er schnell, trickreich, abschlussstark, auf der rechten Aussenbahn; ich ausdauernd, überlegt, passsicher, im zentralen Mittelfeld. Er immer mit perfekter Frisur, die Fransen blondiert, ins Gesicht frisiert.

«Es war eine geile Mannschaft», erinnert sich Fassnacht. Viele gute Spieler, ein reger Konkurrenzkampf. Unser beinharter Trainer schonte uns nicht, las uns lautstark die Leviten. Mit Erfolg: Wir gewannen den Zürcher Cupfinal. Nach einem gemeinsamen Jahr trennten sich unsere Wege. Ich wechselte zum FC Affoltern am Albis, 4. Liga regional. Meine fussballerische Laufbahn endete in der Versenkung der Amateurligen. Oder wie es Roberto Cataldo, unser damaliger Trainer, zu brüllen pflegte: «Was ist das für ein Scheiss? Das ist 3. Liga!» In meinem Fall zutreffend, bei Fassnacht nicht: Er ging zum FC Thalwil, 2. Liga interregional. Heute spielt Christian Fassnacht Champions League, der BSC Young Boys, amtierender Schweizer Meister, ist sein Arbeitgeber.

Physisch unterlegen

Dem Senkrechtstarter, der zum Dreissig-Mann-Kader der Schweizer Nati gehört, kommt eines unserer Testspiele mit Red Star gegen die GC-U-18 in den Sinn. Wir kassierten ein 7 : 1. Erst kürzlich eröffnete Fassnacht den Score bei der epochalen Wachablösung Basels durch YB – ebenfalls mit 7 : 1.

Christian Fassnacht gesteht offen, dass er immer gehofft, aber niemals damit gerechnet habe: «Ich wollte den Sprung schaffen, Challenge League oder Super League spielen.» Schweizer Meister, Champions League, das Interesse von Nati-Trainer Vladimir Petkovic übertreffe seine kühnsten Träume.

Auch zwei seiner engsten Freunde zeigen sich vom kontinuierlichen Aufstieg «Chrigis» überrascht. Fussballerisch sei er zwar aufgefallen, meint Moritz Schlatter, Fassnachts Göttibub im Kindergarten: «Andere waren aber genauso begabt, wenn nicht sogar talentierter.» Fassnacht sei ständig in Bewegung gewesen, spielte Tennis. Er sei sehr kompetitiv. Freund Schlatter erinnert sich an gemeinsame Badeferien. Chrigi habe im Wasserball gegen ihn verloren, musste darauf mit einem Gorilla posieren. «Wetteinsatz ist Wetteinsatz», erzählt Schlatter lachend: «Er macht jeden Spass mit.» Für die Meisterfeier färbte er sich die Haare YB-gelb. Meine neckische Stilbemerkung konterte er mit «zu starch».

«Zu starch» ist auch sein Aufstieg. Vor allem weil es lange nicht nach erstklassigen Flügelläufen ausgesehen hatte: In der FCZ-U15 kegelte Artur Petrosyan, selbst ehemaliger Young Boy, den schmächtigen Fassnacht aus dem Auswahlkader. «Zu klein», lautete die offizielle Begründung. Andere seien in diesem Alter bereits eins achtzig gewesen, er zwanzig Zentimeter kleiner: «Physisch war ich komplett unterlegen.» Ärzte versicherten, dass er noch erwachsen werde. Der FCZ wollte nicht warten. «Selber schuld», stichelt der Aussortierte.

Er sei zu Tode betrübt gewesen, schlagartig von der Ideallinie zum Profifussballer abgekommen zu sein. Er wisse, dass fernab dieser Talentschmieden die Wahrscheinlichkeit für den Durchbruch verschwindend klein sei: «Das war frustrierend», er habe aber einfach weitergemacht. Man habe ihm das Hadern nicht angemerkt, meint Philip Vinzi, ein anderer Freund von Kindesbeinen an. Seine Familie, ihre bedingungslose Unterstützung seien wohl ausschlaggebend gewesen, so Vinzi. Beispielhaft besuchte die Mutter von Fassnacht jedes Spiel unserer Red-Star-Truppe, stets mit Kamera und Monsterobjektiv bewaffnet.

Idol Cristiano Ronaldo

Nach dem Rausschmiss beim FCZ fasste Christian Fassnacht bei den Red-Star-B-Junioren Fuss. «Er kam als Milchbubi, als Sprenzel», witzelt Roberto Cataldo, der ehemalige B- und A-Junioren-Trainer von Fassnacht. Drei Jahre habe er ihn «geschliffen», zwei von drei Cupfinals mit ihm gewonnen. Fassnachts Effizienz beeindruckte: die intelligenten Laufwege, die Intuition fürs Spielgeschehen. Viele seiner spielentscheidenden Tore seien volley gewesen, Direktabnahmen. Er hielt den Fuss hin und «peng!», schnörkellos unter die Latte. «Christian fehlte nie, war in jedem Training», unterstreicht der Trainer die Zuverlässigkeit und den Fokus seines Zöglings. Während mir der Ostschweizer Cataldo-Nachhall – «Gopfatammi, Zella!» – noch heute im Ohr surrt, schwärmt er: «Fassnacht begriff jede Passübung auf Anhieb, setzte meine Vorgaben eins zu eins um.»

Trotz den Qualitäten gesteht Trainer Cataldo, dass er vom Durchbruch überrascht sei: «Zwei, drei andere waren besser.» Einer davon sei Delano Fischer gewesen, «technisch Weltklasse», so Cataldo. Beide spielten sie zu meiner Rechten im Mittelfeld. Fassnacht musste zuweilen auf die Aussenverteidigerposition zurückrücken oder als Edeljoker weichen. «Ich war dazumal besser», bestätigt Fischer selbstbewusst. Ich erinnere mich an einen Freistoss, den er in Ronaldo-Manier über die Mauer in die rechte obere Torecke versorgte. Ob er einst mit der Nase vorn, heute 5.-Liga-Kicker, nicht eifersüchtig sei, frage ich. «Ein bisschen neidisch bin ich schon», gesteht Fischer. Seine Karriere, Berufslehre statt Profifussball, würde er jedoch gleichermassen lancieren. Heute, Mitte zwanzig, ist er Inhaber einer Unternehmung. Handkehrum spielt Fassnacht Champions League gegen Juventus Turin, Starspieler: Cristiano Ronaldo, fussballerisches Idol der beiden.

Warum er und nicht andere es geschafft hätten, begründet Fassnacht mit seiner Priorisierung: Er begann die Fussball-Academy mit integrierter KV-Lehre, konnte so zeitgleich dem Ball nachrennen. Während seine Peergroup in der Freizeit Party und Frauen im Kopf hatte, fokussierte er auf das nächste Spiel. Im Gruppenchat habe es oft Sprüche gehagelt, sagen Schlatter und Vinzi. Zugute halten ihm die langjährigen Freunde, dass er bei den wichtigen Anlässen – wie der weihnächtlichen «BroNacht» unter Freunden – immer «am Start» sei.

«Dortmund wäre krass!»

Die Wege von Fassnacht und mir trennten sich als Regional-Cupsieger. Es folgte der «zweite Rückschlag», wie Christian Fassnacht es nennt. Die Aktivmannschaft von Red Star, damals 2. Liga interregional, rekrutierte andere und nicht ihn: «Den Profifussball konnte ich eigentlich vergessen.» Er wechselte zu seinem Stammverein FC Thalwil, ebenfalls 2. Liga interregional, und machte den grossen Gump: «Ich lernte, meinen Körper einzusetzen.» Sein damaliger Trainer Jérôme Oswald habe ihn gezielt gefördert, beim FC Wil und beim FC Schaffhausen ins Training geschickt, um ein «Gespür für Profis» zu bekommen. Fassnacht büezte geduldig: «Im entscheidenden Moment musst du den Trick stehen», sagt er, inspiriert von seinem älteren Bruder, einem ehemaligen Profi-Snowboarder.

Der FC Tuggen machte schliesslich das Rennen um Fassnacht. Ein Glücksfall. Müsste Christian Fassnacht einen Tag X nennen, es wäre das Testspiel mit dem Schwyzer 1.-Liga-Verein gegen den Bundesligisten Hoffenheim. «Da ist mir ein ganz gutes Spiel gelungen», meint er bescheiden. Der FC Winterthur verpflichtete den Flügelspieler, sein nächster Schritt im kontinuierlichen Aufwärtstrend. Nach zwei Saisons in der zweithöchsten Liga klopfte Thun aus dem Berner Oberland an. Mit seiner Freundin, Jennifer Degen, zog er nach Gümligen. Dort wohnt er noch immer, trotz Wechsel zu YB. Zehn bis fünfzehn Minuten benötige er ins Training.

Seit seinem Super-League-Einstand 2016 kontaktiere ich Fassnacht ab und an, gratuliere zu Toren vor allem gegen seinen früheren Herzenskclub, den FCZ. Die Frage, ob er zu Weihnachten immer noch das neue FCZ-Leibchen bekomme, verneint er: «Ich liebe Bern.» Trotzdem wolle er ins Ausland, eine neue Sprache, eine unbekannte Kultur erkunden. Einen Ausklang à la Marco Streller oder Alex Frei bei seiner Jugendliebe FCZ könne er sich nicht vorstellen. Der Knick in der U15 scheint tief verankert. «Die wollten mich ja nicht», winkt er ab.

Beeindruckend, wie sich die Lage innert zehn Jahren gedreht hat: Fassnacht, einst verstossen, ausrangiert, hält nun die Zügel in der Hand, sagt, wo es langgeht. Die Türen stehen ihm offen. Sein hart erarbeiteter Aufstieg brachte ihn in diese komfortable Position. Abgehoben wirkt er nicht. Die Freunde Schlatter und Vinzi mutmassen über einen Wechsel nach Deutschland: «Dortmund wäre krass!»

Egal, was kommt, Fassnacht lebt seinen Traum. Vom Regionalfussball in die Champions League, damit hat er einen weiteren erfüllt: meinen. «Denn ich kann stolz behaupten, dass ich einst besser war als der jetzige Shootingstar des Schweizer Fussballs.»

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