«Eine zweite Corona-Welle ist unvermeidlich»

Wolfgang Klietmann, emeritierter Professor an der Harvard Medical School, lobt die Schweiz und blickt in die Zeit nach dem Lockdown. Für den deutschen Epidemiologen führt der sicherste Weg ins normale Leben über Immunitätszertifikate. Von Roman Zeller

Veröffentlicht in Die Weltwoche, 15. April 2020

Bild: Unsplasch.com

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Herr Professor Klietmann, die Schweizer Kurve der Angesteckten flacht stark ab. Ein gutes Zeichen? Oder trügerischer Schein?

Es ist mit Sicherheit ein gutes Zeichen. Wir müssen die Ansteckungskurven verflachen, damit die Gesundheitssysteme nicht zusammenbrechen. Die Mitigationsstrategie ist das Beste, was wir im Moment tun können: die Kurve herunterdrücken und versuchen, die Pandemie im beherrschbaren Rahmen zu halten.

Damit gewinnen wir lediglich Zeit. Besiegt wird das Virus nicht.

Richtig. Wir dürfen ja nicht in eine unbeherrschbare Situation kommen, wie etwa in Italien. Man muss die Kurve runterdrücken, um die Pandemie im Rahmen zu halten. Das mussten alle lernen.

Die Spanische Grippe von 1918 forderte in der zweiten Ansteckungswelle viel mehr Opfer als in der ersten. Wie kann man dieses Schreckensszenario verhindern?

Wenn die erste Welle langsam abflacht, ist die Durchseuchung geringer, als wenn man ohne restriktive Massnahmen das Virus wüten lässt. Für die zweite Welle heisst das: Es verbleiben mehr ansteckbare, nicht-immune Personen. Das ist der Preis, den man in Kauf nimmt, weil dann Behandlungsverfahren möglich sein werden, um die zweite Welle zu mildern und zu verkürzen.

Ist eine zweite Welle unvermeidlich, oder lässt sie sich mit geschickten Massnahmen abwehren?

Nein, sie ist unvermeidbar, sogar von einer dritten Welle müssen wir ausgehen. Wohl im nächsten Frühjahr. Zur Entwarnung: Die Zahl der Immunen wird immer grösser, weshalb die Ausbreitung jeder weiteren Welle milder ausfällt.

Mit anderen Worten: Die Staaten, die jetzt auf harte Lockdowns setzen, werden von der zweiten Welle härter getroffen, weil weniger Leute immun sind.

Korrekt. Wir können nur die Ausmasse steuern: die Kurven abflachen, sie strecken und die Erkrankung mit Medikamenten lindern. Ein Wiederaufflackern liesse sich nur durch einen Impfstoff verhindern. Und das wird nicht vor einem Jahr möglich sein, frühestens.

Wenn eine zweite und dritte Welle über die Schweiz hereinbrechen: Sind ähnlich drastische Einschnitte wie heute nötig?

Im Wesentlichen sind es die gleichen Massnahmen. Und hier liegt das grösste Problem: Keine Wirtschaft lässt sich auf Dauer stilllegen. Das könnte zu einer grösseren Katastrophe führen, mit Aufständen, bürgerkriegsähnlichen Zuständen.

Haben die Regierungen mit ihren Lockdowns überreagiert?

Die Sofortmassnahmen waren unumgänglich, es musste gehandelt werden, auch wenn wir nicht vollständig informiert waren. Die Berichte aus Wuhan, die drakonischen Massnahmen der chinesischen Behörden prägten uns, sie führten uns die Bedrohung direkt vor Augen. Alarmstufe Rot. Plötzlich galt es, alle möglichen Schutzmassnahmen zu erwägen und sofort zu implementieren. Die Prioritäten waren klar: Überleben und Schadensbegrenzung standen zuoberst auf der Liste.

Aus Südkorea erreichen uns derzeit widersprüchliche Informationen, was die Gefahr von Wiederansteckungen angeht. Sind Menschen, die am Coronavirus erkrankten, immun gegen das Virus – oder nicht?

Ich gehe davon aus, wer die Infektion durchseucht hat, ist immun. Der Körper reagiert nach dem Befall des Virus mit einer Immunantwort, Immunzellen und Antikörper werden mobilisiert. Die entscheidende Frage lautet: Wie lange hält die Immunität an? Bei der Grippe lässt sie ja auch nach einem Jahr nach, weil die Anzahl Antikörper sinkt; bei durchgemachter Maserninfektion besteht der Schutz lebenslang. Über die Corona-Infektion wissen wir noch nicht genug, um etwas über die Dauer der Immunität zu sagen.

Was schätzen Sie?

Etwa ein Jahr. Danach nimmt die Immunität ab. Wenn das Virus weiterzirkuliert, müssten wir uns jährlich dagegen impfen. Noch aber sind viele Fragen offen.

Was wissen wir heute gesichert über die Gefährlichkeit des Coronavirus?

Die Erfahrungen weisen auf eine enorme Infektiosität hin, die Ansteckungsgefahr ist extrem hoch. Man geht aber davon aus, dass die Erkrankung bei rund 80 Prozent der Infizierten symptomlos oder mit milden Beschwerden verläuft. Die restlichen 20 Prozent entwickeln deutliche Krankheitssymptome, wovon 5 Prozent eine Spitalbehandlung erfordern, oft mit künstlicher Beatmung. 20 bis etwa 50 Prozent dieser stark betroffenen Patienten sterben. Ältere Patienten, die über 65-Jährigen, sind bei solchen lebensbedrohlichen Komplikationen am gefährdetsten. Über alle Altersgruppen hinweg verschlechtern Vorerkrankungen – Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Asthma – die Prognose erheblich.

Wie viel ansteckender und wie viel tödlicher ist dieses Virus als die Grippe?

Die Übertragung ist grösser als bei einer normalen Grippe. Das Virus kann bereits während der Inkubationszeit ausgeschieden werden, bis es den Höhepunkt der Ansteckung nach zehn Symptomtagen erreicht. Wie tödlich die Erkrankung ist, wurde mehrfach berechnet und die Zahlen gehen auseinander, weil sie mitigierende und medizinische Massnahmen beeinflussen. Eine Sterberate von 1,6 Prozent halte ich für realistisch, sie ist aber wohl eher zu hoch. Ich denke, sie liegt unter der Spanischen und über der normalen Grippe.

Was genau führt zum Tod: Covid-19 oder die Überreaktion unseres Immunsystems gegen den Erreger?

Von den rund 20 Prozent klinisch schwer Erkrankten mit Hospitalisierung gelangen 5 Prozent in einen kritischen Zustand, der künstliche Beatmung erfordert. Die Virusinfektion führt zu einer Lungenentzündung mit einer überschiessenden Abwehrreaktion des Immunsystems, die schwer beherrschbar ist. Wie diese starken und oft tödlichen Vorgänge in der Lunge medizinisch kontrolliert werden können, wird derzeit untersucht.

Blenden wir in die Zukunft: Müssen wir uns vor jedem Besuch der Grosseltern auf Corona testen lassen?

Ja, aber dass dies möglich ist, ist eine gute Nachricht. Wir können Antikörper gegen Corona im Blut nachweisen. Solche Tests zeigen das Resultat innert 15 Minuten. Ein Immuner wäre geschützt und würde niemand anstecken.

Glauben Sie, dass wir uns nie mehr die Hände schütteln werden?

Die Kontaktformen haben sich schon spontan verändert. Das ist richtig. Irgendwann wird sich das normalisieren. Der Handschlag wird zurückkommen, vielleicht in zwei Jahren. Zu rechnen ist mit Überraschungsepidemien. Wir reisen mehr und schneller. Wir dringen tiefer in die Virenreservate der Affen, Schlangen und Fledermäuse ein.

Schweizer Unternehmer wollen Friseursalons mit Masken versorgen. Richtig?

Solche Schutzmassnahmen sind sinnvoll. Das Misstrauen aber, wer immun ist und wer nicht, bliebe. Der sicherste Start wäre: Jeder wird auf Antikörper getestet; wenn er sie besitzt und immun ist, kann er arbeiten.

Und wird entsprechend gekennzeichnet?

Ja, das ist am sichersten. Die Menschen sind ja bis auf die Knochen verängstigt. Daher braucht es Gewissheit: «Ja, ich habe Antikörper, ich bin geschützt, kann also zurück in die Arbeitswelt.» Vor allem die Personen, die unter 50, 55 Jahre alt sind, werden benötigt. 80 Prozent tragen nahezu unbemerkt das Virus in sich, bleiben symptomlos und wissen gar nicht, dass sie den Erreger in sich trugen. Diese Menschen müssen aber wissen, sie sind geschützt. Das ist psychologisch wichtig.

Wie kommen wir aus den Lockdowns raus?

Man muss die Geschäfte sicher öffnen, aber vorsichtig.

Welche Bedingungen müssen gegeben sein, um Restaurants und Bars wieder zu öffnen?

Der beste Weg führt über Immunitätszertifikate. Auf die setze ich am meisten: Schnelltests liefern konkrete, harte Fakten, rasch und exakt. Zu 98,5 Prozent stimmen die besten Tests.

Welches Land verhält sich vorbildlich?

Die Schweiz hat ein positives Bild abgegeben, und die Deutschen sind auch gut vorbereitet. Es sind die Länder mit einem funktionierenden, soliden Gesundheitssystem.

Was macht sie besonders gut?

Die Schweiz hat kantonal gut gehandelt, regional verlaufen Infektionswellen unterschiedlich. Die Bevölkerungsdichte ist unterschiedlich, auch der Kontakt ist anders. Durch die Nähe zu Italien war das Tessin besonders betroffen. Die Grenzen waren schnell dicht, sofort wurden Massnahmen ergriffen – auch solche, die beim Bund nicht nur auf Applaus stiessen.

Was ist für Sie als Arzt der grösste Lichtblick in der finsteren Corona-Zeit?

Die medizinischen Berufe haben grosse Leistungen erbracht, unter schweren Bedingungen, unter Lebensgefahr – grossartig! Forschergruppen arbeiten Tag und Nacht an Impfstoffen und Therapien, wenden immense Kraftanstrengungen auf, über die gesamte Gesellschaft hinweg. Das stimmt mich positiv: Wir werden das Virus besiegen, während wir gleichzeitig wissen, dass die nächste Infektion bereits wartet. Es ist eine Art Sisyphusarbeit, der Stein muss immer wieder von neuem den Berg hinaufgerollt werden. Das heisst, wir müssen weiterforschen, um künftige Bedrohungen in Schach zu halten. Das lehrt uns das Coronavirus, es ist unser Schicksal.

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