Die, die immer lacht

Silvia Jäggi, 54, blickt auf ein finsteres Leben zurück: mit Missbrauch, Alkoholismus, Gewalt. Heute regt die Solothurnerin Tausende Instagram-Follower zum positiven Denken an. Woher nimmt sie diese Kraft?

Veröffentlicht in Die Weltwoche, 19. März 2020

«Hallo zäme», sagt Silvia Jäggi mit ansteckender Heiterkeit, während sie sich mit ihrer Handykamera filmt. Die 54-Jährige strahlt trotz Corona-Krisenzeit. «Geits bi öich?», will sie mit breitem Solothurner Dialekt von ihren Instagram-Followern wissen. Damit ist für viele der Höhepunkt bereits erreicht, noch bevor die eigentliche Botschaft beginnt.

Jäggis Markenzeichen ist diese immergleiche, fast beschwingte Fröhlichkeit bei der Begrüssung. Täglich postet sie einminütige Videos auf Instagram, und es dauerte nicht lange, bis «Hallo zäme» im Netz Kultstatus erreichte: Dutzende, Hunderte, Tausende verfolgten, wie sie sich aus ihrem Wohnzimmer, dann aus dem nahen Wald oder vom Spaziergang übers Feld an ihre Community wandte. Heute zählt ihre Anhängerschaft 18 000 Follower, und sogar nationale Komiker parodieren die Frau mit dem sonnigen Gemüt, die erst seit Ende 2019 ihre Instagram-Videos teilt.

Im Grunde behandelt Jäggi mit ihren knapp einminütigen Sprachsequenzen ernste Themen, etwa den Umgang mit Missbrauch, Sucht und Gewalt. Menschen mit solchen Sorgen hilft sie mit ihren positiven Lebensweisheiten, als Beraterin, nicht als Therapeutin, wie die Teilzeitsekretärin auf Instagram schreibt. «Ich kann nachempfinden, wie Du Dich fühlst, und Dir viele Tipps geben.» Sie spreche aus «leidvoller Erfahrung».

Ein Leben in drei Kapiteln

Es ist Freitagmorgen und das Wetter trist. Tram und Zug sind menschenleer, da viele im Home-Office sind, noch bevor der Bundesrat am Nachmittag die Schliessung der Schulen bekanntgibt. Doch Jäggi scheint das nicht zu beirren. Ihr knalliger Kapuzenpullover in Babyblau ist ein Farbtupfer in der gegenwärtigen Misere, gleich wie ihr giftgrüner Skoda – die Sportversion –, mit dem sie mich nach Derendingen fährt. Dort wohnt sie, und von dort postet sie ihre Instagram-Videos.

«Meine Kindheit?», fragt Jäggi. Wir sitzen am langen Holztisch. Sie redet hin und her, um dann schlagartig das Eis zu brechen: «Ich bin missbraucht worden.» Sie wisse nicht, wann das erste Mal – «Da war ich ja noch so jung» –, und sie erzählt ihre «schwarze» Geschichte, die in einem Dorf nahe Solothurn begann, in einer ultrakatholischen Familie.

An ihren Vater erinnert sie sich nicht, weil er verstarb, als sie zweijährig war. Der ältere Bruder, den sie kürzlich verloren hat, und die älteste Schwester teilten ihr Schicksal: Sie alle wurden vom Familienangehörigen, der im selben Haus wohnte, beliebig ausgewählt, um sexuell missbraucht, geschlagen oder im Dunkeln eingesperrt zu werden. Heute noch habe sie Flashbacks, sagt Jäggi. «Wenn’s dunkel ist, kann ich nicht schlafen. Ich brauche immer ein Licht.»

Mit fünfzehn konnte sie flüchten, zu ihrem damaligen Freund, ihrer «ersten Liebe». Diese hielt vier Jahre und endete, weil Jäggi – mit zwanzig Jahren – im Gastgewerbe zu arbeiten begann. «Dort hat es angefangen», sagt die heute trockene Alkoholikerin. Nach dem Missbrauch sei das ihr zweites von drei schwarzen Kapiteln. «Ich bin richtig abgestürzt.»

In der Folge hat sich Jäggi genommen, was sie wollte: Männer, um die Liebe zu spüren, die sie nie bekommen hatte, dazu flaschenweise Rotwein und Bier, später Whisky, um die Sorgen im Rausch zu ertränken. Sie schüttelt den Kopf: «Es war richtig schlimm.» Als dann ihr um 24 Jahre älterer Freund überraschend verstarb, spielte sie sogar mit dem Gedanken an Suizid. Damals habe sie begonnen, Bücher über positives Denken zu lesen, «das rettete mich».

Gefruchtet hatte dies aber vorerst nicht, wieder stürzte sie ab. Die mittlerweile arbeitslos gewordene Alkoholikerin zog zu ihrer Mutter, die für sie «alles» war und ebenfalls trank. Die damals «schönste und schlimmste Zeit» beendete die Polizei am 31. August 2000. Jäggi war mit dem Auto unterwegs, der Alkoholtest ergab 3,9 Promille. Noch heute feiert sie diesen Tag, denn seither hat sie keinen Tropfen mehr angerührt.

Trotzdem folgte, was Jäggi als schlimmsten Moment ihres Lebens bezeichnet: der Tod ihres ersten Sohnes. 2006 wurde sie von einem verheirateten Mann schwanger. Die Affäre endete im doppelten Unglück: Er verschwand, und beim Kind wurde das Fehlen der Nieren diagnostiziert. Julian, so nannte sie das Kind, sollte nicht lebensfähig geboren werden. Der Belastungen nicht genug, erkrankte ihre Mutter an Krebs und überlebte zwei Schlaganfälle. Nach dem dritten im März 2007, drei Wochen nach Julians Tod als Säugling, sei ihre Mutter nicht mehr erwacht, wie Jäggi mit Tränen in den Augen anmerkt. «Sie war meine Partnerin, sie fehlt mir bis heute.»

«Kein Lätsch-Tag»

Dass sich Jäggi heute vollständig gefangen hat, verlangte ihr und ihrem bald zehnjährigen Luca – ihrem «Herzschlag», den sie nach künstlicher Befruchtung austrug – eine weitere Grenzerfahrung ab. Ihr Lebenspartner, in den sie sich 2015 verliebt hatte, terrorisierte sie, körperlich wie psychisch. «Ich dumme Kuh kam nicht los, er hat mich völlig zerstört», sagt sie und lacht trotzdem – wie bei den meisten Erlebnissen zuvor, die sie erzählt hat. «So bin ich einfach, lebensfroh, lustig», erklärt sie ihren positiven Umgang mit Negativerlebnissen. Auf ihrem rechten Zeigefinger lächelt ein tätowiertes Strichmännchen. «So war ich immer, Gott sei Dank. Mein Lachen hat mich überleben lassen.»

Es erstaunt wenig, dass Jäggi in einem Instagram-Video das Coronavirus ähnlich freudig thematisierte: Es sei «kein Lätsch-Tag», relativierte sie und sprach aus dem Bauch heraus, wie immer. Vieles sei Angstmacherei, so ihr Befinden, weshalb sie dazu aufrief, weiterzuleben. Sofort hagelte es Angriffe. Sie verharmlose die Epidemie, schrieben wutentbrannte User.

«Natürlich nehme ich die Krankheit ernst», rechtfertigt sie sich. An die Kranken denke sie, und jeder Tote sei einer zu viel. Aber – und jetzt erinnert sie an ihre Instagram-Beiträge – man solle sich nicht runterziehen lassen, nicht nur das Negative sehen, sondern versuchen, das Positive dahinter zu suchen. Dass dies nicht sofort möglich sei, sei ihr klar. «Das muss man lernen», sagt Jäggi, die von Jugendlichen, denen sie hilft, als «zweites Mami» bezeichnet wird. «Das braucht Geduld.» Alles komme gut, sagt sie zum Abschied. «Das unterschreibe ich sofort. Ich wusste immer, dass irgendwann ein Lichtlein aufgeht.»

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